Wie sich die Ziegen fühlen, kann ich gut nachvollziehen. Denn auch ich habe den Zaun schon mehrmals unabsichtlich berührt. Der Stromschlag wirkt wie ein fester Schlag mit der flachen Hand, verbunden mit einem den Körper durchzuckenden Schmerz. Nach einem solchen Missgeschick vergewissere ich mich bei den nächsten Weidebesuchen mehrfach, ob auch wirklich der Strom abgeschaltet ist. Und selbst dann ist mir mulmig zumute, wenn ich den Zaun zwecks Umsetzen anfassen muss. Meine Angst vor dem nächsten Stromschlag ist also stärker als mein Verstand, der Harmlosigkeit signalisiert. Und diese Angst ist den Tieren sicher gleichermaßen bewusst.
Bei unseren Pferden, die ebenfalls mittels Elektrozaun auf der Weide gehalten werden, kann man dieses Bewusstsein sogar beobachten. Sie sind, was Stromimpulse anbelangt, besonders empfindlich. Daher empfehlen die Gerätehersteller die Wahl einer geringen, Strom sparenden Stufe des Weidezaungeräts. Übersetzt heißt dies, dass Pferde außergewöhnlich ängstlich sind. Wie bewusst sie die Vorgänge um den Zaun (und damit die schmerzhaften Lektionen) wahrnehmen, zeigt unsere Stute Bridgi. Sie ist besonders verfressen, und das saftigste Gras wächst natürlich immer außerhalb der Umzäunung. Bridgi registrierte, dass jedes Mal, wenn ich komme, der Strom abgeschaltet wird. Und seit diesem Moment der Erkenntnis handelt sie wie folgt: Sobald ich die Weide betrete, schiebt sie ihren Hals unter dem Zaun hindurch. Mit dem Elektroband im Nacken grast sie den Nachbarstreifen genüsslich ab, bis ich die Koppel wieder verlasse. Wäre die Angst rein unbewusst, so würde die Stute den Kontakt zum Zaun durchgehend vermeiden. So aber schaltet ihr Bewusstsein die Furcht in dem Augenblick ab, wenn ich den Strom abschalte. Von außen gesehen, kann man weder dem Pferd noch mir die Angst ansehen. Lediglich die Vermeidung der Zaunberührung deutet darauf hin.
Dieses Gefühl darf man sicher den meisten, wenn nicht allen Tierarten unterstellen. Unangenehme Erfahrung macht nun mal jeder, und jedes Wesen muss daraus lernen können, um zu überleben. Lernen und Angst sind demnach fest miteinander verknüpft. Der Schluss »alle lernfähigen Wesen können auch Angst empfinden« muss somit zulässig sein. Und selbst Fliegen mit ihren klitzekleinen Hirnen lernen. Das kennen Sie sicher auch: Wenn Sie in Ihrer Wohnung auf Jagd nach den Plagegeistern gehen, so werden die Winzlinge immer gewiefter, je öfter Sie daneben schlagen. Es ist eine Art Training der besonderen Art, denn jeder Fehler der Fliegen wird sofort mit dem Tod bestraft. Warum weichen sie unserer Hand aus? Weil sie Angst haben, Todesangst, und das lässt sie auch außergewöhnlich schnell lernen.
Ich erinnere mich nur noch schemenhaft an die Zoobesuche der Kindheit. Anfangs war alles interessant, ich bestaunte jedes Tier, aber mit der Zeit wurde es mir langweilig. Spätestens nach einer Stunde interessierten mich nur noch die Highlights, etwa große Raubtiere oder Elefanten. An andere Arten kann ich mich heute nicht mehr erinnern. Mit einer Ausnahme: Was mir noch recht lebhaft vor Augen steht, ist die Besichtigung des Pavianfelsens. Auf diesem künstlichen Betongebilde tummelte sich stets eine froh gelaunte Gesellschaft der afrikanischen Savannenbewohner, die sich zu Zeiten der Fütterung laut kreischend um Brotreste und Früchte zankten.
Deutlicher noch als die Nahrungsaufnahme ist mir allerdings der wilde, ungehemmte Sex in Erinnerung. Die Paviandamen stellten ihre knallroten, geschwollenen Hinterteile zur Schau, und ob Herdenchef oder Jüngling, immer wieder waren schnelle Kopulationen zu bestaunen. Gerne wäre ich länger dort am Gehege stehen geblieben, aber ich war hin- und hergerissen zwischen widerstreitenden Gefühlen. Einerseits war ich sehr neugierig, andererseits peinlich berührt, da ich in sexuellen Dingen eher konservativ erzogen wurde. Eines war jedoch offensichtlich: Die ganze Horde schien das alles prächtig zu genießen.
Zwischenzeitlich erfuhr ich in der Schule, wie Tiere bis in die kleinsten Abläufe mehr oder weniger automatisch reagierten. Diese Sezierung der Vorgänge im Sexualkundeunterricht war für mich so ernüchternd, dass ich mich lange fragte, ob auch der Mensch so berechenbar funktionierte. Konnte die Biologielehrerin mit diesem Wissen noch entspannten Sex haben oder entzauberte ihre Kenntnis von den Details die ganze Sache? Heute stelle ich mir umgekehrt eher die Frage, warum nur der Mensch mehr an der Paarung finden sollte als eine rein mechanische Betätigung.
Handlungen von Tieren werden von der Wissenschaft meist als rein zweckorientiert gesehen. Ein Instinkt A löst eine Tat B aus und führt zum Ergebnis C. Können Tiere zweckfrei handeln, einfach nur Spaß haben? Dies zu bejahen würde gleichzeitig bedeuten, ihnen Lebensfreude und damit auch so etwas wie Glück zuzugestehen.
In den letzten Jahren mehrten sich die Indizien, dass dem tatsächlich so ist. So zeigte das Naturhistorische Museum in Oslo mit einer Ausstellung unter dem Titel »Wider die Natur?«, dass Homosexualität unter Tieren weiter verbreitet ist als allgemein vermutet. Bisher soll die Wissenschaft rund 1500 Arten kennen, bei denen derartiges Verhalten beobachtbar sei. Ob Schimpansen, Delfine, Hunde, Nashörner oder sogar Fliegen, offensichtlich gibt es diese Sexvariante bei den meisten Spezies. Auch unsere heimische Tierwelt mischt kräftig mit: Immer wieder berichten Jäger etwa von Hirschen, die sich in der Brunftzeit zu »Männerpaaren« zusammenschließen und sich miteinander vergnügen.
Das Problem: Findet Sex unter gleichgeschlechtlichen Partnern statt, kann es logischerweise keinen Nachwuchs geben. Solches Verhalten läuft aber dem Grundprinzip der Natur zuwider, nachdem alles Streben der Weitergabe eigener Gene zu dienen hat. Jedes Abweichen davon ist unnötige Energieverschwendung und wird von der Evolution mit dem Aussterben bestraft. Demzufolge müsste also auch Homosexualität einen tieferen Sinn haben. Und tatsächlich formulierten Wissenschaftler erste Ansätze dazu. So sollen gleichgeschlechtliche Paare quasi der soziale Klebstoff innerhalb von Sippen sein. Ihre friedvolle Art und die Mithilfe bei der Aufzucht des Nachwuchses ihrer Verwandtschaft, etwa von Brüdern und Schwestern, dienten auch dem Erhalt der eigenen Gene, die denen ihrer Nichten und Neffen ja sehr ähnlich seien.
Würden diese Theorien zutreffen, so hätte Homosexualität einen biologischen Sinn, wäre unter evolutionären oder vielmehr wissenschaftlichen Gesichtspunkten endlich legitim. Genau dieser Punkt macht auch in der menschlichen Gesellschaft gleichgeschlechtliche Liebe so problematisch. Sie gilt als unnormal, weicht vom Heile-Welt-Familienschema ab, da sie nicht reproduktionsorientiert ist. Könnten Schwule schwanger werden, sähe das möglicherweise ganz anders aus. Aber Sex nur so zum Vergnügen? Das zu akzeptieren, fällt der Gesellschaft schwer. Vielleicht kann uns die Tierwelt hier eine goldene Brücke bieten. Zum einen ist es sicher richtig, dass die Evolution nur und ausschließlich an dem Erhalt der Gene arbeitet. Homosexualität ist in diesem Sinne eine Sackgasse. Dennoch kommt sie bei vielen Tierarten vor, darf mithin als normal gelten.
Warum treiben Tiere oder auch Menschen Sex? Fortpflanzung ist das Wichtigste im Leben, zumindest aus der Sicht der Evolution. Die Weitergabe der eigenen Gene, optimalerweise gemischt mit besonders guten Erbanlagen des anderen Geschlechts, ist das Ziel aller Mühen des Lebens. Nein, nicht nur aller Mühen, sondern auch aller Freuden. Besonders der des lustvollen Orgasmus. Dieser kurze Moment einer schwer zu beschreibender Gefühlswelle, die je nach Veranlagung Sekunden oder Minuten dauert, ist die Belohnung des Gehirns für ein langes Werben um den Partner. Zugleich stellt es eine Vorauszahlung für den kommenden Lebensabschnitt dar, der mit der Aufzucht des Nachwuchses mannigfaltige Entbehrungen bereithält. Für all dies ist ein flüchtiger Augenblick höchster Wonnen ein wenig gering bemessen, finden Sie nicht? Natürlich gibt es auch vorher und nachher wunderschöne Momente, etwa das Glück, die eigenen Kinder aufwachsen zu sehen, ihre bedingungslose Zuneigung zu spüren. Auf die Liebe kommen wir aber später noch zu sprechen.
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