Als typische Einzelgänger schließen sich Rehe nicht dem Menschen an. Auch wenn sie in unsere Vorgärten kommen (dort wird schließlich nicht gejagt) und dort ein wenig ihre Scheu vor uns ablegen – ein Rest davon bleibt.
Tiere, die kein Schmerzempfinden hätten, würden von der gnadenlosen Natur sofort aussortiert. Wird beispielsweise ein verletztes Bein nicht geschont, sondern rücksichtslos weiter belastet, so fällt es schließlich ganz aus – und der Besitzer wird ein leichtes Opfer von Raubtieren. Ein trauriges Beispiel für die Wichtigkeit dieses Signals bei uns Menschen lieferte ein pakistanischer Junge, auf den Forscher aufmerksam wurden. Er trat als Straßenkünstler auf, lief über glühende Kohlen und bohrte sich Messerklingen in die Arme. Kein Wunder, stellten die Wissenschaftler doch einen Gendefekt fest, der jedes Schmerzempfinden unmöglich machte. Sechs weitere Kinder mit gleichen Erbschäden wurden in der Verwandtschaft des Jungen entdeckt, alle mit zahlreichen blauen Flecken, Schnittwunden, Quetschungen und Knochenbrüchen. Das Leben des Jungen endete wenig später während eines Auftritts mit einem Sturz vom Dach.
Ohne Schmerz ist das Überleben für uns kaum möglich. Täglich würden wir uns verletzen und aus diesen Verletzungen wenig lernen. Unangenehme Erinnerungen an die auslösenden Situationen gäbe es ja nicht, von dem abstoßenden Anblick einmal abgesehen. Warum sollte das für Tiere anders sein? Wie, wenn nicht durch Schmerz, könnten sie sofort Verletzungen feststellen, sich außer Gefahr bringen und diese künftig meiden?
Selbst primitivste Arten müssen demnach über Gefühle verfügen. Angenommen, Fliegen hätten kein Bewusstsein (was sich, wie später noch erwähnt wird, als Irrtum erweisen könnte). Fühlte sich dann Schmerz für die Winzlinge trotzdem ähnlich an wie für uns? Wäre es nicht möglich, dass Schmerz in diesem Fall nur ein biochemischer Auslösereiz ist, der eine Kettenreaktion von Reflexen in Gang setzt? Der keine Qualen auslöst, sondern nur einen Schalter eines Bioroboters darstellt? Wäre es so, so würden Fliegen aus unangenehmen Erfahrungen nichts lernen. Sie würden wieder und wieder dieselben Fehler machen, wenn Schmerz nichts Abschreckendes hätte. Dass sie ihr Verhalten ändern, können Sie beispielsweise beim Fliegenfangen sehen: Die kleinen Flieger werden mit jedem Versuch, mit jedem Erschrecken vorsichtiger, starten bereits, wenn sich Ihre Hand nur nähert. Es muss also selbst bei winzigen Insekten positive und negative Gefühle geben, Belohnungen und Bestrafungen für Handlungen, die einen Lernerfolg zum Ziel haben.
Das Bewusstsein, so vorhanden, lässt das Individuum höchstens zum Beobachter eines kaum beeinflussbaren Prozesses werden. Denken wir an uns selbst und die Herdplatte. Ist das Bewusstsein hier nicht vollkommen überflüssig? Die Hand zieht sich auch ohne Denkprozesse rasch zurück, und unsere Wahrnehmung erhöht nur die Qual, weil wir den Schmerz in allen Facetten auskosten müssten. Das Bewusstsein als unbeteiligter Beobachter könnte höchstens die Rolle eines Verstärkers übernehmen, der die negativen Gefühle fester verankert und so Fehler konsequenter vermeiden hilft.
Werden Wirbeltiere verletzt, so wird bei ihnen das gleiche Areal im zentralen Nervensystem aktiv wie bei uns, nämlich das Endhirn. Selbst bei Fischen, die entwicklungsgeschichtlich sehr weit von uns entfernt sind. Wenn sie am Haken des Anglers zappeln, muss nach neuestem Stand der Forschung von einem quälerischen Akt ausgegangen werden, denn ihr Endhirn läuft dabei ebenfalls zu Höchstleistungen auf.
Das Schmerzempfinden als elementare Warnfunktion muss bei jedem Tier vorhanden sein, ob unbewusst oder bewusst. Anscheinend gilt diese Erkenntnis aber nicht für bürokratische Wissenschaftler (oder wissenschaftliche Bürokraten). Anders ist es nicht vorstellbar, dass unserem Schutz unterstellten Tieren so viel zugemutet werden darf. Fleisch von männlichen Schweinen mag niemand kaufen, weil sie voller Sexualhormone sind und das Fleisch daher unangenehm riecht. Was liegt da näher, als einfach den Quell des Übels, die Hoden, zu entfernen? Und damit das schnell und billig abläuft, werden die wenige Tage alten Ferkel ohne Betäubung operiert. Aus angeblichen Tierschutzgründen(!) sind auch das Ausbrennen der Hörner bei Kälbern und das Abschneiden der empfindlichen Schnabelspitzen bei Hühnerküken in der modernen Landwirtschaft Alltag – selbstverständlich ohne Narkose. Ansonsten würden sich die Tiere in der Enge der Ställe gegenseitig verletzen. Klingt brutal und ist es wohl auch, aber von offizieller Seite nimmt man einfach an, dass zumindest ganz junge Tiere kein Schmerzempfinden haben. Erst ab 2017 (Hühner) und ab 2019 (Ferkel) soll sich dies ändern – nach diesen Terminen darf amtlicherseits Gnade walten.
Selbst die Nachkommen unserer eigenen Art, eben erst geborene Säuglinge und vor allem Frühchen, wurden früher medizinisch als schmerzunempfindliches Etwas angesehen. Bis in die 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts operierten Chirurgen sogar am offenen Herzen von Babys, und zwar (aus Angst vor Nebenwirkungen) ohne Narkosemittel; das herzzerreißende Schreien und Strampeln wurde von ihnen eher als harmloser Reflex gedeutet.
Mittlerweile weiß man, dass Neugeborene selbstverständlich Schmerzen fühlen, und daher setzt man bei Operationen solch junger Patienten heute routinemäßig Schmerz- und Narkosemittel ein. Tierbabys wird das leider oft immer noch abgesprochen. Dabei ist auch bei ihnen das beobachtbar, was allen Wesen auf unserem Planeten gemein ist: Werden sie verletzt, so zeigt der Körper eine Abwehrreaktion. In diesem Fall ein heftiges Strampeln und Schreien, was vermutlich nur deshalb als unerheblich abgetan wird, damit die Halter weiterhin ohne Skrupel Ferkel und Küken für die Massentierhaltung tauglich machen können.
Noch einmal: Schmerz ist ein Körpersignal, welches dem Gehirn die drohende oder eingetretene Schädigung des Körpers meldet – dieses Gefühl muss jedes Wesen kennen. Damit ist gleichzeitig geklärt, dass Tiere grundsätzlich fühlende Geschöpfe sind. Allerdings haben wir bisher erst den wissenschaftlich »minderwertigeren« Teil, die Sensibilität, abgedeckt. Um zu zeigen, wie es mit den anspruchsvolleren Gefühlen, den Emotionen, aussieht, muss ich auch in diesem Zusammenhang zunächst in die Kiste der negativen Gefühle greifen. Sie rufen viel heftigere Reaktionen hervor und sind daher besser nachzuvollziehen.
Emotionen sind komplizierte Vorgänge zwischen Körper und Verstand, die unser Bewusstsein in Form von Gefühlen erreichen. Eines der stärksten ist die Angst. Sie signalisiert dem Gehirn eine so heftige Bedrohung, dass Blutdruck und Puls ansteigen und der ganze Organismus in den Zustand höchster Leistungsfähigkeit versetzt wird. Mit der Angst spricht das Unterbewusstsein meistens Verbote aus, dieses und jenes zu tun. Aktives Handeln wird in aller Regel nur für eine Flucht ausgelöst. Ein Teil der Ängste ist angeboren, andere werden erlernt. Für Letzteres habe ich täglich ein Beispiel vor Augen: einen Elektrozaun. Unsere Milchziegen genießen die warme Jahreszeit auf der Sommerweide. Alle zwei Wochen ist die Teilparzelle abgegrast, und das nächste Wiesenstück ist an der Reihe. Um die Ziegen zu hüten, hat sich ein Elektrozaun bewährt. Er ist nicht so gefährlich wie Stacheldraht und kann leicht versetzt werden. Die Stromschläge sind zwar schmerzhaft, aber ungefährlich. Die älteren Tiere berühren den Zaun schon jahrelang nicht mehr, während die Lämmer zwei, drei Mal die unangenehme Erfahrung machen, dass die Litzen eine Grenze darstellen, die man besser meidet.
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