1 ...6 7 8 10 11 12 ...22 1981 war Silke wie so oft mit ‚Künstler‘ genannten Pop-Interpreten auf 45Tourneen, aber ihre Schwester Esther war da, mit Walter, den sie schon dringend wollte, obwohl er damals noch anderweitig verheiratet war. Meine Eltern hatten die beiden im ‚Mignon‘ untergebracht, das zu jener fernen Zeit noch keine fünf Sterne hatte und zur Wohnung meiner Eltern das Nächstliegende war, wenn auch nicht so nahe wie jetzt zu unseren heutigen Anwesen. Pali und Arthur im Doppelzimmer und Susi im ‚Einzel‘ schliefen ebenfalls dort, Harald in der nicht weit entfernten Wohnung von Hasso, dem ewig klammen Bruder meines Vaters, der sich die Anschaffung in Meran von seiner dritten Frau Karen hatte bezahlen lassen und das Zubrot für Haralds Unterbringung gern einstrich. Roland und ich hatten ein ordentliches Zimmer in dem Haus, in dem meine Eltern gedacht hatten, Teile ihres Lebensabends zu verbringen: eine Vierzimmerwohnung im obersten Stockwerk mit Blick auf nichts als Apfelplantagen. „Unverbaubar“, hatte der Eigentümer gelogen. 1981 wurden zu beiden Seiten Häuser errichtet. In den glaslosen Fenstern knallten die Plastikabdeckungen im Sturm, und Pali sagte: „In Hamburg wohnt ihr hübscher.“ Irene ging in die Küche, um ihrem Wutanfall freieren Lauf zu lassen. Sie rammte die Schere, mit der sie eigentlich Schnittlauch hatte schneiden wollen, 46in den Küchenboden, dessen PVC-Belag Kacheln vortäuschte. „Das muss ich mir in meinem Haus nicht sagen lassen“, zischte sie. Guntram sagte begütigend: „Püppchen!“, was sie nun wirklich nicht war, und ich dachte: „In wessen Haus denn sonst?“
Harald, Esther, Hanno, Walter
Hanno, Irene, Guntram
Geburtstagsgesellschaft (alle 19. Juni 1979)
Aber dann saßen wir doch alle ganz friedlich in dieser Wohnküche und spielten das Wahrheitsspiel, das Roland und ich so liebten: Nacheinander darf sich jeder eine Frage ausdenken, und alle am Tisch müssen sie beantworten. So wie die Gruppe zusammengesetzt war, brauchte man nicht zu befürchten, dass die Fragen harmlos blieben, oder gar die Antworten. Irene zeigte sich am nachhaltigsten von Susis Antwort zu ihrem Traumberuf beeindruckt: „Zuhälter“.
Susi kam, nun wieder 2016, vom anderen Tischende her in meinen Nachtisch und sagte, der für den nächsten Vormittag geplante Aufstieg zum Wasserfall würde den meisten zu viel. Es konnte sich bei diesen ‚meisten‘ nur um die vier Personen handeln, die in Susis engerem Umfeld saßen, und Susi steht in dem Ruf, einen besonders guten Draht zu mir zu haben. Da mir die ganzen Tage über nicht klar gewesen war, ob ich erleichtert oder enttäuscht hätte sein wollen, wenn mein Geburtstag ausgefallen wäre (Einmarsch der Russen in Italien, nordkoreanische Bomben auf Europa, der nächste Schlaganfall, das Jüngste Gericht oder Ähnliches) nahm ich Susis Mitteilung gelassen.
Der Wasserfall von Partschinsgilt als Touristenattraktion, er ergießt sich aus schwindelnder Höhe hinab ins Vinschgau. Obwohl ich seit Mitte der Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts dauernd in Südtirol war, hatte ich keine Ahnung von ihm, bis Rafał uns im vorigen Jahr dorthin schleppte. Es war, als hätte mich nach 63 Jahren in Othmarschen jemand darauf hingewiesen, dass dort die Elbe entlangfließt. Als wir Susi, die ein paar Wochen später eintraf, das Schauspiel zeigen wollten, war das Ausflugslokal unterhalb des steilen Pfades geschlossen, was ich für einen Samstag ungewöhnlich fand. Würde ein Skiliftbetreiber im Februar Urlaub machen? Obwohl ich im Allgemeinen kaum etwas die Kehle runterkriege, finde ich eine Erkundungstour ohne Lokaltermin unangemessen. Das Essen kann ich wegen Blockade oft nicht beurteilen, aber Sprachstil der Speisekarten und Zustand der Waschräume sagen oft ähnlich viel über die Örtlichkeit aus wie über die Aromen der Gerichte.
In der Nähe des prächtigen Wasserfalls fand ich ‚Onkel Taa‘,bei Google natürlich. Zunächst wollte ich es nicht in die engere 47Wahl nehmen, weil ich nicht recht einsah, warum ich im Vinschgau thailändisch essen sollte. Aber der knorrige Wirt erklärte mir später, dass er den Spitznamen von seinen kleinen Neffen bekommen und beibehalten habe. Das Lokal gibt es seit 1430. Damals herrschte in Thailand สมเด็จพระบรมราชาธิราชที่ 2, also Borommaracha II., und der Staat hieß noch 509 Jahre lang Siam.
Auf den mühsamen Anstieg zum Wasserfall konnte ich schmerzlos verzichten, und wenn die anderen keine Natur wollten – ich würde nicht schulmeisterlich auf Bundhosen bestehen. „Dann fahren wir eben erst um zwölf los und gleich zu Onkel Taa“, sagte ich und rührte den Löffel im Topfenmousse. Bei der Süßspeise bin ich immer schon so erleichtert, dass ich sie häufig aufesse.
LEBENDE UND UNSTERBLICHE
UMWEG #10
SAMSTAG, 18. JUNI 2016
Alle saßen pünktlich in den Autos, für die sie eingeteilt waren. Rafał fuhr mit Bo, Ingrid und mir vorneweg und verzichtete wegen seiner guten Ortskenntnisse auf die Navigatorin, was uns und die anderen drei Autos hinter unseren Rücken mehrfach durch Algund führte. An der ewig selben ewig roten Ampel machten wir uns Mut, die Nachzügler würden das bestimmt für eine Ortsbesichtigung halten, dann kamen wir doch nach Töll, wobei Rafał unentwegt den Rückspiegel anschrie, warum Giuseppe so langsam führe. In Töll mussten wir die vernünftige Landstraße auf den Reschenpass verlassen, über die Etsch-Brücke setzen, am Endzeit-Stimmung verbreitenden Bahnhof vorbeigleiten, und wenn man dann nach einer Weile auf dem ganz ehrlich als ‚Sackgasse‘ ausgeschilderten Weg denkt: „So, nun ist alles aus!“, dann kommt ‚Onkel Taa‘. Bei gutem Wetter kann man draußen sitzen. Wir saßen drinnen. Der Regen verhinderte, dass irgendwer den Wasserfall vermisste. 48Unser Tisch war festlich gedeckt, und es dauerte eine Weile, bis alle an ihm saßen, weil es viel zu begucken und zu bestaunen gibt. Wir tauchten ein in die österreichische K.-u.-k-Welt: Plüsch und Spitze und Sisis Badewanne im Hof vor steilem Felsen.
Hanno mit 16 Jahren (1962)
Hanno mit 19 Jahren (1965)
Hanno mit 22 Jahren (1968)
Was als Imbiss gedacht war, wurde ein reichhaltiges Menü. Ich aß, wie andere Nostalgiker auch, Schnecken. Das war in den Siebzigerjahren Mode gewesen. Silke schenkte mir damals zum Geburtstag Pfännchen aus feuerfestem Glas und chirurgisch anmutende Bestecke dazu. Die Schnecken lagen zu dieser Zeit in ziemlich einfallslosem Sud; man kaufte sie bei besseren Feinkost-Geschäften in der Dose, füllte die ausgewaschenen oder neu erworbenen, dekorativen Häuschen mit den glibberigen Dingern, bestrich die Öffnung mit sehr viel Knoblauch-Petersilien-Butter, und dann ab in den Ofen. Das war wesentlich umstandsloser, als es die durchtriebenen Alten Römer trieben: Sie sollen die nichts ahnenden Schnecken mit Milch gefüttert haben, damit sie anschließend schöner schmeckten. Aber auch heute noch freut sich Tierversteher und Bestseller-Autor Wohlleben kauend, wenn es das Huhn in seinem Mund vorher gut gehabt hat. Artgerecht gehalten, artgerecht gegessen. Wahrscheinlich ist es auch artgerecht, 49Menschen in Religionen gefangen zu halten. Evolution bevorzugt das Schneckentempo. Während wir vor vierzig Jahren die gesottenen Weichtiere mit den chirurgischen Zangen aus dem Gehäuse lösten und dann auf die Gabel piekten, um sie gekonnt an die Lippen zu führen, kamen wir uns sehr weltläufig vor: Vietnam ging uns nichts an, aber Manieren hatten wir. Unsere Eltern hatten nach dem Krieg noch Blumenkohl in Mehlschwitze gegessen, wenn überhaupt. Bei uns gab es allenfalls Broccoli mit gerösteten Mandeln. Pali merkte zurecht an, dass Schnecken wie ausgespuckter Kaugummi schmecken und nur dank ihrer forsch gewürzten Knoblauch-Verpackung genießbar werden. Veganer nehmen heute natürlich Distelöl mit enzymatischer Veresterung statt Butter.
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