Guntram (1937)
Guntram (2. v. l.) und Freunde
Schiebt man die Religionen als Volksverdummung weg, was bleibt dann noch? Ich mag mich wirklich nicht als ,Nihilisten‘ bezeichnen, das Wort mag ich einfach nicht. Aber ,Atheist‘ nenne ich mich auch nicht gern, obwohl ich nicht an einen lenkenden Gott glaube (die unüberwindlichen Barrieren meiner Kindheit). So habe ich es gelernt: Man trägt keine braunen Schuhe zum dunkelblauen Anzug; man schneidet Kartoffeln nicht mit dem Messer; man ist nicht Kommunist, homosexuell oder gottlos. Seit meine Mutter tot ist, brauche ich ihre Gebote nicht mehr zu befolgen, aber diese Gebote zu übertreten, löst immer noch wohlige Schauer oder Betretenheit in mir aus.
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Originale Bilder: ©Peter Probst/ shutterstock.com, ©Nemo1963/ shutterstock.com, Montage: ALEKS & SHANTU
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AUFGABEN AUFGEBEN
UMWEG #7
MI., 1. JUNI – SA., 11. JUNI 2016
So, nun also die ersehnte Zeit der Aufgabenlosigkeit. Die macht ja fast jeden verrückt. Rafał war davon am wenigsten betroffen, weil er den Haushalt führen und kochen musste. Ich, der ich immer schon sehr liederlich, aber recht rezeptfreudig war, redete ihm kaum in die Kochwäsche rein, machte aber allmorgendlich für das Mittagessen Vorschläge, die zu meiner Freude als Weisungen ausgelegt wurden.
38Außerdem musste Rafał den Wagen in Meran zu Mercedes bringen, weil unterwegs an der hinteren Stoßstange ein Stöpsel für einen nie geplanten Anhänger in irgendeiner Garage ab- handengekommen sein soll. Diebstahl mit Fahrerflucht? Jedenfalls stellte sich bei dieser Gelegenheit heraus, dass das Navi auf ‚Fahrten ohne Tunnel‘ programmiert war. So musste ich der Frau im Cockpit Abbitte dafür leisten, dass sie uns über Ungarn statt über den Brenner hatte schicken wollen.
Silke konnte sich von der Aufgabenlosigkeit fast genauso gut befreien wie Rafał, weil sie Mails beantworten, braun werden und schlank bleiben musste. Aber ich! Außer mein Selbstmitleid zu pflegen, gab es, wie die Dinge nun mal liegen, wenig zu tun, zumal ich alle hier in Meran sonst üblichen Therapien wegen meiner seelischen Unausgewogenheit auf unbestimmte Zeit verschoben hatte. Zunächst mal las ich tagelang: über die Phönizier, die Pompadour, die USA. Ich stellte mir die Welt mit Trump, Putin, Marine Le Pen und Beatrix von Storch vor und freute mich schon aufs Totsein.
Doch dann begannen auch meine Pflichten. Als ich noch arbeitete, kannte ich etwa fünfhundert Leute: teils beruflich, teils sexuell. Heute kenne ich immer noch fünfzig Menschen, Tote nicht mitgerechnet, und ein paar von ihnen wollten mich zu meinem Geburtstag besuchen. Das war schmeichelhaft, aber vor allem eine Aufgabe; denn wenn ich etwas besonders schlecht kann, dann ist es, Dinge einfach auf mich zukommen zu lassen. Diese (Un-)Fähigkeit begründete meine Paranoia wie meine Erfolge: Ich sehe die Welle, bevor der Ozean von ihr weiß, und ich habe mich bereits entschieden, ob ich ihr trotzen oder ihr entrinnen will, bevor das Wasser überhaupt darüber nachdenkt, ob es sich kräuseln soll. Natürlich waren die meisten Vorbereitungen schon von Hamburg aus angekräuselt worden, aber damit es nachher auch wirklich ganz spontan wirkt, muss man bis zum letzten Augenblick an jeder Einzelheit feilen. Da mich alle Gäste gut kennen, glaubt mir sowieso keiner, dass nicht jede Sekunde durchgeplant ist, aber alle geben sich erwartungsfroh in ihr Schicksal, also meine Hände.
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ENDE DER EINSAMKEIT
UMWEG #8
SO., 12. JUNI – MI., 15. JUNI 2016
Als Erste kam Susi. Am Sonntag. Sechzehn Tage nach uns. Susi fügt sich gut ein, und wenn sie das nicht kann oder will, bleibt sie für sich. Wir kennen uns seit 1969, haben also schon viele Tote gemeinsam. Aus Solidarität oder Ehrgeiz schloss sich Susi meiner bereits seit einer Woche durchgehaltenen Abstinenz an, machte allerdings meine Quarkdiät nicht mit. Susi will nach ihrer durch Kieferoperationen bedingten Nahrungseinschränkung zunehmen, um etwas gesünder auszusehen, ich möchte meine Hosen wieder schließen können, ohne Erstickungsanfälle zu riskieren: Das sind schon Unterschiede. Vielleicht bin ich heute gebildeter als vor vierzig Jahren, aber das entschädigt mich ja nicht dafür, dass meine durch nichts zu ruinierende Schlankheit von damals einem zweifelsfrei dem Alkohol anzulastenden Blähbauch gewichen ist. Da ich die Brautschau auch als One-Night-Stand längst aufgegeben habe, ist es eigentlich egal, aber aus Geiz scheue ich mich davor, meine überwiegend dreißig Jahre alten Kleidungsstücke auszutauschen, erst recht gegen 40Billigware. Rafał sorgt dafür, dass ich täglich etwas Frisches anziehe, und weil ich Unmengen an Garderobe habe und nie etwas wegschmeiße, finde ich, dass das meiste noch recht anständig aussieht. ‚Klamotten‘ gibt es bei mir nicht.
Susi (1975)
Susi (1970)
Mein sechzigster Geburtstag vor zehn Jahren war auch in Meran begangen worden, während in Deutschland das durch Bestechung erkaufte ‚Sommermärchen‘ der Fußballweltmeisterschaft für Begeisterung sorgte. An meinem in Hamburg groß gefeierten 66. Geburtstag 2012 fand das Spiel der Europameisterschaft an einem Ort statt, den ich in meiner Rede erwähnen wollte und den ich mir deshalb aufschreiben musste: Донецьк. Inzwischen ist Donezk ständig in den Nachrichten, traurige Berühmtheit. Zu meinem Siebzigsten jetzt ereilte mich die nächste Europameisterschaft, gewürzt durch Spekulationen über weitere Anschläge in Frankreich und knüppelige Auseinandersetzungen zwischen jungen Männern, die unterschiedlicher Meinung darüber waren, ob sie lieber auf die englische oder auf die russische Mannschaft stolz sein wollten. Gerechterweise gingen beide unter. Dass Italien, wo ich war, gegen Deutschland, wo ich nicht war, verlor, fand ich traurig, auch wenn es meine Gäste freute, weil ihnen so ein Schlaf störendes Hupkonzert erspart blieb. Dass man auf seinen Pass, seinen Postboten oder überhaupt auf etwas stolz sein kann, was man nicht selbst geleistet hat, habe ich nie verstanden und werde es nie verstehen. Auf mein Geld bin ich auch erst stolz, seit ich das Kapital nicht nur ausgebe, sondern auch vermehrt habe. Dass ich darauf viel weniger Steuern zahle als früher auf meine Gehaltsgelder, die ich mir mühselig erschuftet hatte, ist Glück. Und Glück kann man einfach genießen, ohne darauf auch noch stolz sein zu müssen. Sollte die Vermögenssteuer, über die sich mein Vater als ‚Besteuerung von Versteuertem‘ immer aufregte, diese nicht fiskalisch, sondern bloß optisch wirksame ‚Gerechtigskeits-Neid-Steuer‘ nach der nächsten Bundestagswahl wieder eingeführt werden, dann kann ich stolz sagen: „Ich habe im Sommer 2016 ordentlich viel ausgegeben, um das zu versteuernde Einkommen zu mindern“, und „ich habe, seit ich geerbt habe, jährlich so viel in die von mir gegründete Stiftung investiert, dass ich keine Lust habe, mich moralisch abtatschen zu lassen von Leuten, die noch nie unter Beweis gestellt haben, dass sie mit Geld pfleglich umgehen können.“
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