«Du musst aus der Schusslinie», befahl ihre Agentin und schickte sie damals vier Wochen nach Amerika, was ihr guttat. Das Elend dort machte sie zur Europäerin. Sie war plötzlich stolz auf ihre alten Heimat, auf das alte Europa. Sie empfand tatsächlich so etwas wie Patriotismus.
«So, und damit diese Journalistenkläffer dir nicht noch mal ans Bein pinkeln, besorgen wir dir einen guten Anwalt.»
So war sie mit Ludwig von Hausen bekannt geworden. Er brachte sie vom Koksen ab, das sie sich in Stresszeiten angewöhnt hatte, ohne dem verfallen zu sein, empfahl ihr eine Therapie, um das schlechte Gewissen ihren Eltern gegenüber zu lindern, und sprach mit ihr von Mensch zu Mensch. Ja, so altmodisch drückte er sich aus: «Mit Ihnen muss man von Mensch zu Mensch reden. Das hat vorher wohl noch niemand getan.» Sie diskutierten über Politik, ganz ernst und frei von Zynismus, er ging mit ihr spazieren, sie segelten auf dem Wannsee, spielten Tennis. Er war so bürgerlich, so erwachsen, sie hätte heulen können vor Glück. Er bot ihr seine Hand, lebenslang, sprach von den drei Kindern, die er sich von ihr wünschte, möglichst bald, und hielt bei ihrem Vater um ihre Hand an.
Es war ganz großes Theater, von allen Beteiligten. Sie glaubte, endlich im Leben angekommen zu sein. Sie wollte es glauben. Jetzt, im Nachhinein, war ihr klar, sie hatte sich vorsätzlich belogen, von Anfang an. Dennoch, dieser Aufbruch damals war so schön gewesen, selbst die Erinnerung daran hatte unter dem Alltag nicht gelitten.
Mit einer Energie, die durchaus mit Leidenschaft zu verwechseln war, wenn man von Menschen keine Ahnung hatte, entwarf von Hausen damals ihr gemeinsames Leben. Sie heirateten kirchlich, im Kloster Chorin, ein ganz kleiner Kreis von Menschen, die ihnen von Herzen alles Gute wünschten. So schien es ihr damals. Die Hochzeitsreise führte nach Siena, und er, der kühle Jurist, machte sie auf so leidenschaftliche Weise mit der Kunst der Toskana vertraut, mit den Bauwerken, den Plastiken, den Gemälden, dass ihr das Herz überging vor Gefühl.
Sie fühlte sich wie eine Prinzessin, die ihr neues Schloss bezog. Nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, dass er sie bewusst weich stimmte, auf dass sie schneller für Kinder bereit war. Er wollte ihre Liebe nicht für sich, es ging ihm um Kinder, drei an der Zahl, rasch geboren, deswegen tat er alles, sie romantisch zu stimmen, weich, aufnahmebereit. Er war berechnend auf eine Art, die sie nie für möglich gehalten hatte.
‹Du spinnst›, dachte sie, als ihr das erste Mal der Verdacht kam, dass er gar nicht sie meinte. ‹Du spinnst, er liebt dich, unglaublich aufrichtig altmodisch liebt er dich!›
Aber so war es nicht. Im ersten Jahr konnte sie es verdrängen. Sie wurde schwanger und die Freude über die Schwangerschaft verdrängte die Erinnerung an das körperliche Zusammensein mit ihm. Die zweite und dritte Schwangerschaft folgten rasch darauf. In den ersten fünf Jahren ihres Zusammenseins kam sie kaum einmal zum ruhigen Nachdenken.
Nach dem dritten Kind schlief er nicht mehr mit ihr. Es fiel ihr erst gar nicht auf, dann, als sie nachrechnete, wie lange er nicht mehr in ihr Schlafzimmer gekommen war, hielt sie es für normal. Väter sind zuerst Väter, dann Liebhaber. Aber er sah seine Kinder kaum an, und er sah sie nicht mehr an. Zugegeben, sie hatte keine sonderliche Freude daran gehabt, mit ihm zu schlafen. Es war nicht widerlich gewesen, wie mit dem Journalisten, es war seltsam, mit ihm intim zu sein.
Mit siebzehn war sie noch Jungfrau gewesen, dann entschloss sie sich, dem rasch ein Ende zu machen, und so war es auch gekommen. Es war die Umsetzung eines Entschlusses, mehr nicht. Ihr Freund damals war auch Schauspieler, sie selbst hatte gerade ihren ersten Auftritt in einer Daily Soap, es fiel ihnen beiden nicht schwer, eine glückliche Beziehung zu schauspielern. Aber der Sex war es nicht, er war nicht schön, er war nicht unschön, es war Gymnastik mit Wohlfühlgarantie. Er hatte Affären, sie hatte Affären, das war so verabredet und sicherte den Marktwert, aber keinen Mann hatte sie je mit Liebe berührt, und nie hatte ein Mann ihr Herz zum Beben gebracht. So wünschte sie es sich, ein wenig kitschig. Und auch wieder nicht. Eigentlich hatte sie absolut keine Vorstellung davon, was sie wirklich wollte. Als dann von Hausen in ihr Leben trat, wusste sie, sie wollte ihn. Mit ihm würde sich alles andere von selbst ergeben. Anfangs dachte sie auch wirklich, dieses Verliebtsein im Kopf würde automatisch irgendwann auch ihr Herz erreichen und ihren Körper erwärmen. Das war ein Irrtum. Mit ihm schlafen hieß intim werden. So drückte er sich aus. So gab er sich. Fehlte nur, dass er sich davor und danach in ihrer Gegenwart die Hände wusch. Anfangs schien es ihr nur eine Eigenart, dass er immer mit geschlossenen Augen dalag. Immer schien er an etwas anderes zu denken. An eine andere? Er dachte nichts, wenn er die Augen schloss. Schon gar nicht an eine andere Frau, oder an Männer, Knaben, Mädchen, was auch immer. Er dachte gar nichts. Es war ihm einfach nur zuwider. Aber das wurde ihr erst viel später klar.
Ihre Neugier wich langsam einem immer größer werdenden Groll, nicht gegen ihn, gegen die Liebe im Allgemeinen. Ihr Wille, alles gut machen zu wollen, machte sie blind für seine Reserviertheit. Sie gab sich selbst wie immer die Schuld an allem. Dank ihrer Mutter.
Er hatte von Anfang an Wert auf getrennte Schlafzimmer gelegt, die zwei Kindermädchen taten alles, um die Kinder von ihm fernzuhalten – das war sein ausdrücklicher Bescheid bei ihrer Einstellung gewesen. Und sie selbst – sie war nicht mehr da für ihn, einfach nicht existent. Anfangs tat sie das, was ihre Mutter sie gelehrt hatte. Sie zog sich hübsch an, elegant, verwegen, verrucht, streng – keine Rolle, die sie erprobte, verlockte ihn zum Applaus. Sie schmollte, zog sich zurück, begann ihm Szenen zu machen – nichts. Erst dann, nach Monaten, suchte sie das Gespräch.
«Warum …», sie hatte sich die Worte vorher sehr sorgfältig zurechtgelegt und die einfachsten gewählt, um sich nicht selbst zu verwirren, «warum lieben wir uns nicht mehr?»
Er stand mit dem Rücken zu ihr, am Schreibtisch, in seinem Arbeitszimmer, das einen so schönen Blick auf den Garten bot. Er drehte sich langsam um, elegant gekleidet, wie immer im dunklen Anzug, selbst an einem Samstag, da er nur zur Hause arbeiten musste.
«Was ist, mein Schatz», fragte er sie in sehr freundlichem Ton und sah sie eindringlich an. Es war klar, er hatte ihre Frage gehört, er hatte sie verstanden, er hatte sie sehr gut verstanden, aber er machte nicht die geringsten Anstalten, sie zu beantworten, er machte gute Miene zum bösen Spiel.
Sie war Schauspielerin genug, um ihn vollends zu durchschauen. Er hatte eine Rolle gespielt, er hatte sie gut gespielt, und sie war darauf hereingefallen. Sie hatte ihm vertraut, und sein Blick sagte nicht mehr und nicht weniger als: Spiel weiter! Keine Drohung, die Drohung lag nicht in seinem Blick oder seiner Gebärde, die Drohung stand im Raum, das Haus war die Drohung, alles um sie herum war Drohung, selbst ihre Kinder schienen jetzt zur Bedrohung zu werden, denn sie fesselten sie an diesen Mann, der ihr Unglück wollte. Sie spürte das erste Mal, was sie anfangs für Leidenschaft gehalten hatte, nun in seiner absoluten Reinheit: Sie spürte nur Hass in diesem Mann. Jede Faser war erfüllt davon, er war böse, so böse, dass er jeden anderen täuschen konnte, denn das war unmöglich, dass ein Mensch so ganz und gar böse war.
«Was ist, mein Schatz?» Das war die einzige Perfidie, die er sich erlaubte, ihre Frage zu wiederholen.
«Ach nichts», erwiderte sie, als hätte sie gerade nach seinen Wünschen fürs Abendessen gefragt, «nichts ist.»
Sie ging aus dem Zimmer, ohne die Tür hinter sich zu schließen, eilte in den Garten, umschlang einen Baum und rieb ihre Wange an der Rinde, bis sie Schmerz empfand.
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