«Hallo!»
Jetzt endlich hob Lotta den Kopf und sah ihre Mutter einen Moment verdutzt an, weil sie das zweite Hallo für nicht sehr logisch hielt. «Ich hab doch schon Hallo gesagt!»
«Aber hast du mich dabei auch angesehen?»
«Muss ich das? Gibt’s was Neues zu sehen?»
«Werd nicht frech, Süße!»
Lotta hatte schon wieder abgeschaltet und den Kopf über ihren Stundenplan gebeugt, als gäbe es nicht Wichtigeres auf der Welt. Becky sah auf den dünnen Nacken ihrer Tochter und eine Welle mütterlicher Fürsorge durchflutete ihren Körper. Sie schien manchmal so zerbrechlich, so blass, so ganz aus Porzellan. Dann wieder dieser Sturkopf. Diese Art, sich ganz und gar einzumauern und keinen an sich heranzulassen.
Keine Ahnung, wie das weitergehen sollte.
«Hast du schon gegessen?»
Keine Regung. Sie schien die Frage einfach nicht gehört zu haben.
«Süße, hast du schon gegessen?!»
«Mannoh, jetzt nerv doch nicht dauernd!»
Lotta blickte entrüstet auf. Ihr schmales Gesicht hatte sich zu einer wütenden Grimasse verzogen. Das konnte sie gut. In null Sekunden auf hundertachtzig. Genau wie ihr Vater. ‹Was hat meine kleine süße Tochter eigentlich von mir geerbt›, fragte Becky sich, als sie in die kindliche Fratze vor ihr sah. In diesen Momenten war ihr ihre eigene Tochter fremder als jedes andere Kind auf dieser Welt. ‹Irgendwas muss sie doch von mir haben!›
«Essen! Es geht nur ums Essen. Und dass du groß und stark wirst. Also: Tofu oder Fisch?»
Lotta sah schon wieder auf ihren Stundenplan. Die Arme hatte sie weit abgewinkelt, als könnte sie so die Woche in die Länge ziehen. ‹Was für dünne Arme!›, dachte Becky und stutzte plötzlich. Sie trat näher an den Tisch und fasste die rechte Hand ihrer Tochter. Lotta sah erbost auf und versuchte sich aus dem Griff ihrer Mutter zu lösen.
«Lass meine Hand los!»
Becky hielt die Hand ihrer Tochter fest. Zog sie ein wenig näher an sich heran.
«Seit wann hast du ein Tattoo?»
Donnerstag, 8. März, 20 Uhr
Grill Royal
Martina war sich klar, worauf das Ganze hinauslief. Wenn Ralf sie zum Essen in den Grill Royal lud, dann deshalb, weil es von da nur zehn Minuten zu ihm nach Hause waren. Er war in seinen Avancen nie sonderlich kompliziert gewesen, das hatte ihn auf Anhieb so sympathisch gemacht. Ralf war ein gradliniger Egoist. In dieser Beziehung konnte man sich absolut auf ihn verlassen. Wenn er sagte: «Blas mir bitte einen», dann meinte er das auch ernst. Das war viel Wert in der Hauptstadt der Heuchler. Zudem war er pünktlich, auch das eine Tugend, die sie sehr schätzte. Und er stellte sich beim Sex nicht allzu dumm an. Das war sie von Männern sonst nicht gewohnt gewesen.
«Wie geht es dir?»
«Gut!»
«Das sieht man! Du siehst blendend aus!»
‹Heuchler›, dachte sie, ‹bei dieser Beleuchtung hier könntest du Rotkäppchen nicht vom bösen Wolf unterscheiden.› Aber ein Kompliment war ein Kompliment und allzu viele hatte sie davon in letzter Zeit nicht bekommen. So schien es ihr in dem Moment zumindest. Ralf hatte den besten Tisch am Fenster gewählt, saß bereits da, als sie mit fünfminütiger Verspätung eintraf, half ihr aus dem Mantel, rückte den Stuhl zurecht.
Er war perfekt.
Sein Anzug saß gut wie immer, die Fingernägel waren frisch manikürt und ein kaum wahrnehmbarer Duft nach Herrenseife ließ sie insgeheim wohlig aufseufzen. Er war auf eine sehr altmodische Weise männlich, zumindest was sein Äußeres betraf. Vermutlich hätte er sogar eine Krawatte getragen, wenn dieses Date ihr erstes gewesen wäre.
«Wie waren die letzten Monate so?», fragte er verlegen.
«Super! Ich weiß nicht, was ich mehr vermisse, Strahlentherapie oder Chemo, beides shocking amusing! Von den feinfühligen Ärzten ganz zu schweigen.»
Sie konnte es sich nicht verkneifen, ihm ein wenig sein Versagen vorzurechnen. Zwölf Monate hatte er sich nicht gemeldet. Exakt zwölf Monate. Gerade mal ein Jahr. Kein Mensch hatte je behauptet, dass man ewig in der Hölle schmoren muss, wenn man erfahren will, was Verdammnis ist. Zwölf Monate reichen, ein Tag hätte gereicht.
«Ich musste oft an dich denken.»
Sie schluckte, denn wenn dieser Blick geschauspielert war, dann war er ein verdammt guter Schauspieler. So viel treuherziges Bedauern hätte sie in seiner Fitness-First-Brust nie vermutet.
«Martina, du weißt, ich bin kein sonderlich mutiger Mensch … Ich, ich wäre dir keine große Hilfe gewesen.»
«Das weiß ich!»
Fast war sie versucht, tröstend seine Hand zu tätscheln. Sie blickte sich Hilfe suchend um. Was, wenn er ohnmächtig wurde. Ihr schossen noch eine Reihe anderer dummer Gedanken durch den Kopf. Mentaler Selbstschutz. Wann immer die Rührung oder das Selbstmitleid oder die Verzweiflung von ihrem Denken Besitz ergreifen wollten, suchte sie nach Scherzen. Die billigsten waren die besten. Da blieb ihr das Lachen wenigstens nicht im Halse stecken.
Sie hielt seinem mitleidigen Blick tapfer stand. Was nicht leicht war. Sie wusste noch gut, wie er sie das erste Mal angesehen hatte. Gierig. Davon war nicht mehr viel zu spüren. Er wirkte verkrampft, fast ein wenig ängstlich. Das musste er nicht sein.
Er ahnte gar nicht, wie gut sie seine Feigheit nachvollziehen konnte. Er hatte Angst vor dieser Krankheit. Genau wie sie. Sie hatte immer noch eine furchtbare Angst. Anders als alle anderen, die so taten, als wäre das alles nur eine Frage der Zeit, der Therapie, der Einstellung. Das war es nicht. Wer einmal vom Blitz getroffen wurde, vertraut keinem Regenschirm mehr. Sie grinste bemüht burschikos.
«Das weiß ich, Ralf, das weiß ich nur zu gut.»
Hätte sie damals fliehen können, sie wäre bis ans Ende der Welt geflohen und hätte die Krankheit einfach daheim gelassen. Wie einen zu schweren Koffer, den man nicht braucht. Sollte sich doch ein anderer damit abschleppen! Was ging sie das an? Aber nein, es war ihre Krankheit. Ihr verdammter Krebs. Ihr ganz persönlicher. Danke sehr auch! Ihr Krebs! Vor dem sie höllische Angst hatte. Immer noch. Genau wie er. Dafür liebte sie ihn. Nein, dafür liebte sie ihn nicht. Dafür respektierte sie ihn. Er schien ihr ehrlicher als alle anderen, die so taten, als wäre sie gesund, geheilt, auf dem besten Weg zurück ins alte Leben, das es nicht mehr gab. Dafür war er der beste Zeuge. Wann immer er sie ansah, war ein Vorbehalt in seinem Blick zu spüren. Als hätte die hübsche Porzellanpuppe einen Riss. Den Riss gab es. Aber er konnte ihn unmöglich sehen. Das wollte sie ihm beweisen. Es gab nichts mehr zu sehen, was an ihre Krankheit erinnerte. Deswegen würde sie mit ihm schlafen. Vielleicht verschwand dieses verdammte Mitleid dann. Wenn auch nur für einen Moment.
«Und jetzt lass uns bitte nicht mehr darüber reden! Vorbei und vergessen! Wie ist es dir denn so ergangen? Erstickst du nicht langsam am eigenen Erfolg?!»
«Du wirst lachen», er wand sich kokett, «die Geschäfte gehen selbst für einen wie mich nicht mehr so gut. Kosten senken, Kosten senken, Kosten senken. Dass selbst Trash Geld kostet und guter Trash gutes Geld kostet, will den Controllern nicht in ihr kleines Buchhalterhirn.»
Ralf war ein Genie des Billigformats. Mit Gerichtsserien hatte er angefangen, dann Nannys auf Erziehungsreise durch Unterklasse-Gettos geschickt, dann war er in den Zoo gewechselt, Tierpflegerfilmchen drehen, Löwe, Fledermaus und Co., das alles war billig und traf den Nerv der Zuschauer. Ohne Geld auf Ibiza, Kochen mit Promis, das Modell und der Freak. So war sie sich auch immer vorgekommen an seiner Seite. Als Freak. Denn noch harmloser als er konnte man nicht auf andere wirken. Er sah nicht aus wie ein Nerd, im Gegenteil, aber von seinem Charakter her war er ein kleiner Junge, der immer nur das tat, was ihm Spaß machte. Natürlich musste auch was dabei herausspringen. Aber den eiskalten Geschäftsmann ließ er sich nicht anmerken. Das war eindeutig seine Stärke: perfekt inszenierte Naivität.
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