Die Steaks kamen. Sie mochten sie beide blutig. Das war ihr schon beim ersten Mal aufgefallen, damals waren sie auch hier im Grill Royal gewesen. Freunde hatten ihn dazugeladen, damals, sie wusste gar nicht mehr, warum, irgendein Termin wegen der Berlinale, und sie beide waren die Einzigen gewesen, auf deren Tellern Blutspuren zu sehen waren. «Blue rare! Klingt wie ein Jazzstandard», hatte er gescherzt, als er die angewiderten Blicke der anderen am Tisch sah. Fleisch war schon okay, aber es musste durchgebraten sein.
«Ich versteh nicht, wie man so etwas runterkriegt. Das ist rohes Fleisch von einem lebenden Tier», hatte sich seine damalige Begleitung mokiert. Eine Nachrichtensprecherin aus dem Vormittagsprogramm, die vor allem durch ihr feuchtes Lispeln auffiel. Martina hatte sie danach noch einige Male zufällig im Nachmittagsfernsehen gesehen und sich jedes Mal aufs Neue gewundert, wieso die Sender bevorzugt Nachrichtensprecherinnen mit Sprachfehlern einstellten.
Ansonsten war sie nett und hübsch – und strohdoof.
«Süße, jede Form von Kalorienverbrauch ist Kannibalismus», hatte er nur trocken entgegnet und Martina komplizenhaft zugeblinzelt. «Aber verrate das nicht deinen Zuschauern!»
Natürlich war eine Riesendiskussion über Trennkost, Schonkost, Fleischvermeidungskost entbrannt, eins dieser kommunikativen Strohfeuer, die nur dazu dienten, den Beteiligten kurzzeitig so etwas wie wärmende Aufgeregtheit zu verschaffen. Ernsthaft interessiert war keiner.
Auch Mrs. Daisy, so hatte sie die Nachrichtensprecherin insgeheim getauft, ging es nicht um die armen Tiere, sondern um ihren schönen Teint, den sie auf rein pflanzlicher Basis besser erhalten zu können glaubte. Ab und an ein wenig Koks schien auch nicht zu schaden, dachte sie wohl, denn sie verschwand einige Male, um ihr designerdesigntes Näschen zu pudern.
Martina verkniff sich die Frage, was aus ihr geworden war. Ralf wärmte keine alten Liebschaften auf, das war nicht seine Art. Außerdem, Mrs. Daisys gab es im Fernsehen und beim Film Hunderte, und jede von ihnen hätte ihm liebend gern dabei assistiert, wenn er sein T-Bone-Steak sezierte. Vegetarierin hin oder her.
Das Dessert kam. Er schwieg eine Weile, sah ruhig aus dem Fenster, hinaus auf die Spree, die so dunkel wirkte und ihr immer ein wenig Angst machte, als trieben Selbstmörder darin. Jetzt würde er sie gleich fragen, ob er ihr nach dem Nachtisch noch einen Espresso bei sich zu Hause anbieten könne. Damit wollte er ihr Zeit geben, sich innerlich aufzuwärmen. Kommunikatives Vorspiel. Was gar nicht nötig war. Sie wollte raus hier. Sie wollte zu ihm.
Ralf räusperte sich ein wenig verlegen. So schüchtern kannte sie ihn gar nicht.
«Ich hab gehört, du und dein Vater, ihr seid an dem Klimt-Fall dran?!»
Freitag, 9. März, 7 Uhr
Claasens Wohnung
Die Tage begannen immer gleich. Er wachte auf, starrte an die Decke und wünschte sich einen Hund. Einen kleinen, niedrig gewachsenen Collie, der pflegeleicht war und intelligent, und ihm einen Grund gab, aufzustehen und vor die Tür zu gehen.
Es gab keinen. Es gab keinen Hund. Und es gab keinen Grund aufzustehen. Absolut keinen einzigen verdammten Grund.
Seine Hand ging instinktiv zur Seite. Klopfte auf die Bettdecke neben ihm. Er wollte sich vergewissern, dass da niemand lag. Natürlich wusste er absolut sicher, dass da niemand lag. Seit Jahren schon nicht.
An einem Freitag dem Dreizehnten hatten sie sich getrennt. Das waren so die Scherze, die das Schicksal für ihn parat hielt. Heute war Freitag, heute war nicht der Dreizehnte. Aber er fühlte sich so. Folglich hatte er das gute Recht, sich einfach auf die Seite zu drehen und den Tag zu verschlafen. Obwohl er nicht müde war. Im Gegenteil. Er war hellwach. Wie immer, wenn er an Alina dachte. An die sieben guten Jahre, an die sieben schlechten und an die sieben, von denen er nicht mehr allzu viel erinnerte. Er hatte sich wie ein Vollidiot benommen, damals, aber das war nicht das Problem. Das wussten alle und er selbst wusste es am besten. Das war nicht das Problem. Das Problem war, er wusste nicht warum. Kein Therapeut, kein Freund hatte ihm das je erklären können. Alina hatte ihn oft ganz aufrichtig verwirrt angesehen, weil sie einfach nicht damit klarkam, dass er so leicht von Dr. Jekyll zu Mr. Hyde wechseln konnte, ohne Vorwarnung, einfach so, schnipp.
Das waren die schlimmsten Momente gewesen. Wenn sie ihm ganz still, ohne Vorwurf, in die Augen sah und sich im Geheimen fragte, warum er ihr beider Leben zur Hölle gemacht hatte. Er wusste es nicht.
Hans im Glück. Alles war gut. Never ending success! Er war einer der besten Reporter des Landes, mehrfach ausgezeichnet, Großverdiener, auch dank einiger Bücher, die er so nebenher geschrieben hatte. Er liebte die schönste Frau der Welt, zählte jeden Morgen ihre Sommersprossen und dankte ihr für die kluge Tochter, die sie ihm geschenkt hatte. Zu klug vielleicht, aber in den ersten Jahren gab es nichts Schöneres, als sich seltsame Antworten auf ihre seltsamen Fragen auszudenken.
Sie wohnten in einer wunderschönen Altbauwohnung in Mitte, dritter Stock, Sonnenseite, in einem Haus, in dem sich die Nachbarn noch kannten. Sie hatten Freunde, gute Freunde, sie besaßen ein Haus auf dem Land, ein kleines, sie hatten alles, aber es war nicht genug.
Es war nicht genug gewesen für sie, es war nicht genug gewesen für ihn. Sie schliefen regelmäßig miteinander, es war keine Pflicht, es war Spaß. Den Spaß, den man hatte, wenn man sich «Manche mögen’s heiß» zum zwanzigsten Mal ansah. Dass sie ihn betrog, merkte er erst spät. Zu spät, dachte er immer, aber das war gar nicht das Problem gewesen.
«Mach da kein Drama draus», hatte sie gesagt.
«Mach da kein Drama draus!»
Er hatte sie geliebt vom ersten Moment an. Sie war die Morgensonne auf dem Friedhof seines Herzens, genau so hatte er sich ausgedrückt, als er sie im Brecht-Keller zutextete mit seiner Liebe, die er sich durch Worte begreiflich machen musste. Unzählige Worte. Er hatte es nicht für möglich gehalten, dass so ein Glück auf der Welt für ihn zu finden war. Und so ein Unglück, wie er später lernen musste. Dass sie damals nicht davongerannt war, hatte ihn im Nachhinein ziemlich erstaunt.
«Ich hab mich wahnsinnig amüsiert», entgegnete sie immer, wenn er sie darauf ansprach, «und wahnsinnig geschmeichelt gefühlt. Du warst Mr. Big und ich Mrs. Doolittle, aber die Sprechrollen waren genau andersrum an dem Abend. Ich hätte nie gedacht, dass ein Mann sich schon beim ersten Mal so lächerlich machen kann. Aber ehrlich gesagt, anders hättest du mich auch nie rumgekriegt!»
Er war fünfzehn Jahre älter als sie, zwei Wochen nach seinem einundvierzigsten Geburtstag hatte er sie kennengelernt. Ein Seminar für computergestützte Recherche, wie es damals so schön hieß, einer dieser Nebenbei-Jobs, die er besonders gern mitnahm, weil meist noch eine Bettgeschichte mit raussprang. Sein einundvierzigster Geburtstag und er hatte bis dahin keine Beziehung gehabt, die ein Erinnern wert gewesen wäre. Nicht einmal das Scheitern all der Affären war erinnernswert. Nichts, nada, nothing.
Plötzlich stand sie da und er wusste, er wollte ein Kind, ein Zuhause, eine Zukunft. Und als er all das hatte, trat er es mit Füssen. Es war Größenwahn. Er war einfach größenwahnsinnig geworden. Das schöne Gefühl, geliebt zu werden, das ihn anfangs so sacht gewärmt hatte, weil seine Kleingläubigkeit die Flamme nur leicht züngeln ließ, war zum verzehrenden Feuer geworden.
Er wollte ihr die Welt zu Füssen legen, fremde Länder erobern, Ruhm und Reichtum anhäufen, Troja besiegen. Er war durchgeknallt. Die ersten Jahre war das wunderschön. Sie lebten wie im Rausch. Dann war da irgendwann nur noch der Rausch. Sie fand zurück in den Alltag. Er nicht.
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