Daher waren unter den Fahrgästen auch oft Leute, die von ihrem Auftreten und ihrem Gehabe sowie von ihren Fragestellungen her für mich als Stasileute erkennbar wurden. Den Matrosen waren diese Leute schon bekannt. Sie berichteten von der Furcht der Stasi vor Schiffsentführungen, wie sie angeblich kurz nach dem Mauerbau auf der Ostsee von einer Greifswalder Abiturklasse versucht worden sei. Damals fuhr die „Weiße Flotte“ noch bis kurz vor Bornholm, machte aber nicht mehr im Hafen von Nexø fest, was jene Abiturklasse aber mit Gewalt angeblich hatte erzwingen wollen. Die Möglichkeit eines Grenzdurchbruchs mit einem Seebäderschiff der Weißen Flotte oder überhaupt einem Passagierschiff war für die SED-Machthaber seither ein Horror in ihrer Gedankenwelt., Deshalb auch die überdimensionierte Besatzung auf dem kleinen Schiff ‘, dachte ich.
Bei mir hatte sich nun aber schon der Gedanke festgesetzt: , Über die See geht der Weg, um einmal den Käfig von außen zu betrachten.‘
Die offene See mit dem freien Blick zum Horizont, der die Freiheit verheißt, oder zu Schiffen, die an der Kimm deutlich auftauchen, sind für Insassen in einem eingemauerten Land natürlich sehr verführerisch – heute ist das kaum noch zu verstehen. Diese permanenten Gedanken der Insassen nach draußen korrespondierten mit der permanenten Arbeit der Wächter oder der Teilhaber des Käfigs an der Verschlusssicherheit ihrer Anstalt.
Wie gesagt, war der Job höchst anstrengend. Morgens um fünf Uhr ging der Bootsmann durchs Schiff und brüllte jedem, der noch nicht aus der Koje war, sein „Reise, reise!“ ins Ohr. Um sechs Uhr war Dienstbeginn, obwohl wir dann zumeist noch beim Frühstück saßen. Bis zur Abfahrt mit den Tagespassagieren, zumeist zwischen sieben und acht Uhr, musste die Ware beschafft und eingelagert werden, dann ging die Arbeit mit mehreren Stunden Mittagspause im Zielhafen bis gegen 21 Uhr fort, was uns, an sechs Tagen pro Woche, immerhin neunzig Arbeitsstunden brachte. Jeden Freitag aber war Ruhetag für Schiff und Leute.
Jeden zweiten Ruhetag ersparte ich mir die 250 Kilometer auf mecklenburgischen Landstraßen nach Rostock und wieder zurück nach Wolgast, blieb an Bord. Diesen einzigen freien Tag alle zwei Wochen verbrachte ich dann zumeist in den Badeorten des nördlichen Usedom, in Zinnowitz oder Koserow.
Und hier hatte ich im Hochsommer 1981 ein berichtenswertes Erlebnis. Es war die Zeit des ultrarechten, francistischen Putschversuches in Spanien, über den auch im DDR-Fernsehen berichtet wurde, speziell über die Pistolenattacke jenes francistischen Majors in den Cortez, wo jener gestiefelt und gespornt in vollem Wichs die Parlamentarier mit Schüssen in die Decke unter die Tische trieb und nur die Tapfersten auf den Bänken sitzenblieben, wie ich mich noch entsinne.
Just an einem dieser freien Tage, ich saß zum Dinner im „Hotel am Strande“ in Zinnowitz, stiefelte der hiesige ABV mit seinem Gehilfen im Gleichschritt durch die Gasträume. Sie wollten gewiss nur ihr Personalessen einnehmen. Obwohl die beiden, mitten im Sommer, ihre leichte Sommerdienstuniform hätten anlegen können, lärmten sie aber gestiefelt, lederbekoppelt, mit Pistolentaschen und Sturmriemen-Dienstmütze, mürrischen Gesichts durch den Raum. Es wirkte geradezu albern, ich konnte mir ein feixendes Kopfschütteln nicht verkneifen. Ein älteres Ehepaar, das soeben die Mahlzeit beendet hatte und sich auf den Weg machen wollte, duckte sich aber nun verschüchtert und saß noch einen Moment stumm am Tisch. Als sie sich dann aber doch auf den Weg machten, sagte der Herr noch zu mir: „Für Sie, junger Mann, sind diese Leute wohl spaßig, wir haben sie aber noch in anderer, weniger spaßiger Erinnerung!“
Die Sommersaison bei der „Weißen Flotte“ ging Mitte Oktober zu Ende. Es war eine schwere Arbeit getan, die mir kaum Zeit gelassen hatte, die Geschehnisse in der Welt zu verfolgen. Die Ermordung von Präsident Sadat im Sommer wurde nur beiläufig erwähnt, die persönliche Verbindung nach Polen war bereits im Vorjahr durch die Stornierung der Visumsfreiheit durch die DDR-Behörden unterbrochen worden. Mir war klar, dass ich einen solchen Knochenjob nicht wieder annehmen durfte, wenn ich mein Ziel verwirklichen wollte. Die Schinderei auf dem Schiff hatte meine Liquidität aber noch einmal gewaltig aufgefrischt.
Erst nach unserem Jahresurlaub, den ich mit Penelope wieder im „Tal der Ahnungslosen“, in Rosenthal, verbrachte, kam die Lage in Polen deutlicher in mein Bewusstsein. Hier hatte die Solidarność das kommunistische Regime arg in Schwierigkeiten gebracht.
Im Dezember 1981 stellte der Präsident der Volksrepublik Polen sein Land unter Kriegsrecht. Man vermutete, dass er zu dieser Maßnahme gegriffen hatte, um die Sowjetunion von einem militärischen Eingreifen in seinem Land abzuhalten, was zweifellos zu einem blutigen Krieg mitten in Europa geführt hätte.
Unglücklicherweise befand sich Bundeskanzler Schmidt zu diesem Zeitpunkt gerade bei Erich Honecker in dessen Gästehaus in der Schorfheide zu Besuch. Er konnte aber auch nicht so einfach aus Protest abreisen, wollte ja noch in Güstrow die Barlach-Gedenkstätte besuchen und auf der Orgel im Dom der Stadt dem Orgelspiel frönen. Vor allem aber wollte er die weltpolitische Situation nicht noch weiter aufheizen, die durch den Nachrüstungsbeschluss, der ja auf Schmidts Initiative zurückging, einen weiteren Höhepunkt erreicht hatte.
Dann war er aber doch in Güstrow, das keine dreißig Minuten Fahrzeit mit dem Bummelzug von Rostock entfernt liegt. Ich bin eigentlich kein Jubler, äußere meine Zustimmung zu politischen Dingen eher im privaten Kreis; dem geachteten deutschen Kanzler Schmidt wollte ich aber doch durch Anwesenheit meine Reverenz erweisen. Es fuhren an diesem Tag jedoch keine Züge nach Güstrow. Wer nach Waren oder nach Berlin löste, dem wurde gesagt, dass der Zug nicht in Güstrow hält. Wer aber glaubte, pfiffig zu sein und nach Karow oder nach Plau lösen wollte, der wurde auf den Schienenersatzverkehr verwiesen, der natürlich im weiten Bogen um Güstrow herumfuhr. Wem es aber doch gelungen war, seine Person in die Stadt hineinzuschmuggeln oder wer darin wohnte, der hatte weitere Hindernisse zu gewärtigen. Das deutsche Fernsehen hat nach der Wende mehrere eindrucksvolle Sendungen gebracht, die jene Schande besser dokumentiert haben, als es meine Zeilen jemals tun können.
Für alle Welt sichtbar, hatte die Sowjetunion durch Nach-Nachrüstung, Afghanistan-Invasion und polnische Solidarność-Bewegung gewaltige Probleme, zu Beginn der 80er Jahre kam ein weiteres Problem hinzu. In den baltischen, belorussischen und zentralrussischen Kartoffelanbaugebieten der Sowjetunion gab es eine schreckliche Missernte, die mit der Kartoffelfäule in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts in Irland vergleichbar war. Die DDR-Landwirtschaft musste in die Bresche springen. Bereits im Sommer 1981 bemerkte ich, wie man an der Küste bei Lubmin Kliffhäfen in den Bodden hineinbaute. Nun konnten die flachgehenden sowjetischen Wolgabaltschiffe, die für die Ostsee genauso wie für die großen russischen Flüsse gedacht waren, große Mengen Kartoffeln gleich vom LKW in die Laderäume kippen lassen. Bis zur Mitte der 80er Jahre habe ich diese Kartoffelexport-Praxis auch in den östlichen Hafenstädten der DDR beobachten können.
Die DDR war vom zehntgrößten Industrieland der Welt zum Lebensmittellieferanten geworden, denn auch Fleisch (Jungrinder nach Westen und Schweine nach Osten) wurde fleißig exportiert. Hafenarbeiter witzelten: „Demnächst kommen die Russen mit dem Tanker und holen sich die Soße, damit sie die Kartoffeln und das Fleisch einditschen können.“ Andere waren aber weniger pessimistisch, sagten: „Jetzt wird’s ja bald besser, auch in der DDR. Wir haben doch einen Handelsvertrag mit der Insel Dari!“ Wer nun zurückfragte, wo die Insel Dari denn gelegen sei, bekam zur Antwort: „In der Inselgruppe zwischen Soli und Tät.“
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