Im Urlaub war ich natürlich oft in unseren östlichen Nachbarländern unterwegs. Das war immerhin ein Hauch von Freiheit, wenn man auch, speziell in Polen, noch eine tiefe Abneigung gegen Deutsche verspürte. Diese Abneigung gegen uns Deutsche gab es, wie ich mich damals wieder anhand der Berichte und Erzählungen älterer Menschen erinnerte, in Italien nicht. Immerhin hatten ja die Italiener Hitlers Eroberungskrieg viele Jahre klaglos mitgemacht und müssten nun, nach meiner Vorstellung, unter den gleichen Schuldgefühlen leiden wie wir und würden uns, die Hauptschuldigen am Kriege von der Nordseite der Alpen her, womöglich mit Milde und Freundschaft behandeln.
Damals kannte ich auch schon Seumes Buch „Mein Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“ aus der Schule. Bei Klassenwanderungen zum Großen Winterberg zeigten uns die Lehrer Seumes Weg durch Böhmen nach Italien. In meinen nächtlichen Glücksträumen bin ich dann auf der Suche nach dem Weg nach Italien zwischen den böhmischen Kegelbergen umhergeirrt.
Mitten in meinem lockeren Lebenswandel war ich dann plötzlich 40, nun war „Schluss mit lustig“ – es hatte etwas Bedeutendes zu geschehen. Eine Italienreise war das absolute „Muss“ eines deutschen Bildungsbürgers. So sah ich das jedenfalls damals. Am besten erschien es mir natürlich, diese Reise auf den Spuren Johann Gottfried Seumes bis hinunter nach Syrakus zu unternehmen. Nach 40 Jahren Spießbürgerlebens begann ich endlich mit praktischen Schritten zu meiner Selbstbefreiung. Und doch hatte ich bei allem Reisefieber Angst nicht wieder hereingelassen zu werden. Schließlich liebte ich inzwischen dieses Land, nicht den Staat. Sachsen mit seiner langsam verrottenden Pracht, Berlin und die Mark, wo noch immer der Hugenottengeist waberte, und Mecklenburg, wo sogar noch im Winter die Atemluft erträglich war. Und Penelope band mich an dieses Land.
1. KAPITEL: DER PLAN
Ich musste also unbedingt meinen „goldenen Käfig“ einmal von außen sehen. Doch die existenzielle Frage stand im Raum – wie wieder rein?!
Der Gedanke lag nahe, mit einem spektakulären Grenzdurchbruch und der publizistischen Zurückhaltung im Westen nach dem Erfolg Druck auf das SED-Regime auszuüben und so diskret wieder in die DDR einzureisen. Der Plan der Wiedereinreise lag so auf der Hand, wie nun aber raus?
Das Strafgesetzbuch der DDR bedrohte Grenzverletzer im schweren Fall (§ 213 [2. Absatz] Ungesetzlicher Grenzübertritt) mit fünf Jahren Freiheitsstrafe. Schwerer Fall lag vor, wenn:
„1. Die Tat durch Beschädigung von Grenzsicherungsanlagen oder Mitführung geeigneter Werkzeuge oder Geräte oder Mitführen von Waffen oder durch die Anwendung gefährlicher Mittel oder Methoden durchgeführt wird. 2. Die Tat durch Mißbrauch oder Fälschung von Ausweisen oder Grenzübertretungsdokumenten, durch Anwendung falscher derartiger Dokumente oder unter Ausnutzung eines Verstecks erfolgt.
3. Die Tat von einer Gruppe begangen wird.
4. Der Täter mehrfach die Tat begangen oder im Grenzgebiet versucht hat, oder wegen ungesetzlichen Grenzübertritts bereits bestraft ist.“
Und in Absatz 3: „Vorbereitung und Versuch sind strafbar.“
Die Überwindung der Mauer an der Westgrenze war mir ohne Regime-Kenntnisse zu gefährlich. Über die Grenze der ČSSR nach Bayern oder Österreich zu gehen war durch die diplomatischen Verwicklungen, die es gebracht hätte, nicht als Druckmittel für die Rückreise geeignet. Vielleicht gab es einen Weg durch die Luft? Dazu hätte ich aber Flugkünste und gewiss einen Mitwisser benötigt. Es blieb also nur die Ostsee.
Die meisten Fluchtwilligen, welche die Ostsee als Grenzdurchbruchsort im Hinterkopf hatten, dachten an das Fischland oder den Weststrand der Halbinsel Darß, wo es nur 36 Kilometer bis zur dänischen Insel Falster sind, andere an die Insel Poel, die noch näher an der Küste Ostholsteins liegt.
Ohne schon konkrete Pläne im Auge zu haben, bemühte ich mich für die Sommersaison 1981 um die Bewirtschaftung eines von der Mitropa betriebenen Seebäderschiffs der „Weißen Flotte“, das in den östlichen Boddengewässern und an der Ostküste der Insel Rügen Urlauber in Tagesfahrten herumschipperte. Ich wollte auf keinen Fall mehr mit Tablett und Armserviette knechten müssen, es wurde aber dennoch höchst anstrengend, dabei jedoch äußerst einträglich – dies sei voraus gesagt.
Nach einigen Wochen hatte ich einen Saisonvertrag als Buffethaftungsleiter auf der MS SEEBAD WARNEMÜNDE, beginnend am 3. Mai 1981, im Briefkasten. Das Schiff sollte in Wolgast liegen und auch von dort seine Tagesfahrten unternehmen.
Die MS SEEBAD WARNEMÜNDE war ein alter Eisenschlorren von ca. 350 tons und wurde wie ein stolzes Hochseeschiff mit vierzehn Mann ganz seemännisch betrieben. Der Kapitän war ein großer, dicker Mann von Mitte fünfzig, der in den 60ern einmal Erster Offizier auf der VÖLKER-FREUNDSCHAFT gewesen war. Schließlich hatte das Schiff zwei nautische Offiziere an Bord, von denen einer mehrere Jahre bei der Hochseefischerei der DDR als Steuermann gefahren war. Er war an Bord der erfahrenste Mann. Dann gab es noch zwei Mann für die Maschine, einen Offizier und einen Assistent. Die acht Matrosen führte ein Bootsmann. Für die Verpflegung der Passagiere und der Mannschaft waren eine Küchenmeisterin, zwei Kellner und ich, der die Getränkelast unter sich hatte, zuständig. Alle achtzehn Menschen lebten auf dem Schiff, die Offiziere im Oberdeck, die Matrosen achtern und die Gastronomen im Bug.
Bei der ersten Verholreise mit dem noch leeren Schiff von Stralsund nach Wolgast bekam ich meinen ersten nautischen Hinweis, hatte beim Besuch auf der Brücke die Luvtür geöffnet – der Bootsmann brüllte mich an: „Luvdöör tau!“
Mit bis zu 130 Fahrgästen begannen in den nächsten Tagen die Törns, die Peene abwärts, durch den Greifswalder Bodden und aus der Landtiefrinne hinaus in die Ostsee, wo die Reise über die Prorer Wieck nach Saßnitz ging. Bei starkem oder steifem Wind aus östlichen Richtungen holte das Schiff gewaltig über. So dicht vor der Küste der Halbinsel Stubnitz und des Mönchguts baute sich dann eine eklige Kreuzsee auf. Das Schiff hatte keinerlei Stabilisatoren, hätte, um das Schlingern zu dämpfen, gegen den Ostwind angehen müssen, doch dort wollten wir nicht hin. Für die Kellner, die das Mittagessen schon im ruhigen Peenestrom mittels ausgegebener Essenmarken kassiert hatten, war die Schlingerfahrt des Schiffes natürlich eine fette Beute, die sie mit der Köchin teilten, da keiner der Gäste mehr Appetit verspürte.
Bei Schlechtwetter fuhren wir oft leer nach Wolgast zurück, da die Landratten lieber mit dem Zug von Saßnitz aus in ihre Quartiere in Zinnowitz oder in den „Kaiserbädern“ zurückfuhren.
Manchmal führte der Törn auch aus dem Osttief hinaus, um die beiden winzigen Inseln Greifswalder Oie und Ruden zu umrunden und dann auf der Rückfahrt durch das Landtief wieder in den Greifswalder Bodden hinein. Wir schipperten dann nur noch einige Meilen durch den Bodden, das waren allerdings nur Halbtagsfahrten. Wobei die Fahrwässer, die hier Tiefs oder Rinnen genannt werden, nicht nur betonnt, sondern auch regelmäßig ausgebaggert werden mussten. Dieser Archipel war vor wenigen Jahrhunderten noch zusammenhängendes Land. 1629 landete hier Gustav Adolf mit seinem aus über 10.000 Mann bestehenden Schwedenheer, um von Wolgast aus das „Heilige Römische Reich deutscher Nation“ fast zur Gänze zu erobern. Im Frühmittelalter hatten Rügen und Usedom noch eine gemeinsame Landbrücke, so dass die Peene erst westlich von Stralsund bei Hiddensee in die Ostsee mündete. Die Gewässer waren daher denkbar flach und die Ausfahrten schmal, brachten potenzielle Grenzdurchbrecher daher, besonders bei diesigem Wetter, notgedrungen auf kühne Gedanken.
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