„Inzwischen hatte sich ein sehr profitabler Berufszweig entwickelt in Polen: die Juden-Jäger. Das waren Leute, die darauf aus waren, Juden zu entdecken, zu erpressen und zu denunzieren, skrupellos und wahre Experten auf ihrem Gebiet. Viele machten es für Geld – entweder von den Juden oder von den Deutschen, manchmal beides. Am schlimmsten aber waren die, die aus ideologischen Gründen denunziert haben. Die wollten Polen von den Juden befreien und haben sie oft auch misshandelt. Also – es war sehr wichtig, das ‚gute Aussehen‘ zu haben, das heißt polnisch und nicht jüdisch auszusehen. Viele Frauen blondierten sich das Haar und trugen Ketten mit einem Kreuz um den Hals.“
Die Tradition der Beschneidung im jüdischen Glauben macht es besonders schwierig für die männlichen Juden: Werden sie denunziert oder fällt sonst ein Verdacht darauf, dass sie jüdisch sind, ist das durch eine simple Körperkontrolle sehr schnell verifizierbar.
Eines Tages wird Julek von einem Polizisten bedrängt, der ihn für einen Juden hält. Der Polizist folgt Julek bis nach Hause, um ein Bestechungsgeld zu erhalten. Marias Mutter hat jedoch die Courage, den Mann übel zu beschimpfen anstatt ihm Geld in die Hand zu drücken.
„Meine Mutter war eine Löwin. Sie hat dem Polizisten gesagt, dass Julek ein Pole sei, aber keine Arbeitserlaubnis habe. Und dann startete sie ihre Gegenattacke: Sie bezichtigte den Mann, antipolnisch zu handeln, indem er einen Polen an die Deutschen auslieferte, die ihn dann sicher in ein Arbeitslager nach Deutschland schicken würden. Der Polizist zog unverrichteter Dinge ab, aber es war klar, dass Julek nun aus dem Verkehr gezogen werden musste.“
Olga und ihr Ehemann Jerzy Zmigrodzki bieten an, zwei Familienmitglieder aus der Markus-Familie in ihrem Haus in Kobyłka zu verstecken: Julek und Marek.
„Onkel Jerzy hatte Krebs im fortgeschrittenen Stadium, er hat sich nicht wirklich Sorgen um sich gemacht. Er wusste ja: Wenn Juden in seinem Haus entdeckt würden, würde das nicht nur für die Versteckten, sondern auch für sie selbst den sicheren Tod bedeuten. Aber er sagte, dass es einfacher sei, zwei Leute zu verstecken als vier. Und dass in dem Haus nicht genug Platz sei für alle – das Haus hatte einen kombinierten Wohn- und Esszimmerbereich, zwei Schlafzimmer und eine Küche. Und unter diesen Umständen würde er lieber die Jungen als die Alten retten.“
Olga hatte eine andere Meinung.
„Sie dachte, dass es keinen Unterschied mache, ob sie für zwei oder für vier versteckte Juden mit dem Leben bezahlen müsse. Sie war fest entschlossen, auch Inka und Vitek zu verstecken. Sie sagte, wir müssten nur die Lebensmittel aus Warschau holen, damit die kleinen Geschäfte in Kobyłka nicht misstrauisch würden, wir müssten leise sein, die Toilette auf kluge Weise benutzen (die Spülung!) und ein Versteck bauen.“
Mit der Erlaubnis von Onkel Jerzy ziehen Maria, Julek und Marek in das Haus. Die 16 Kilometer lange Fahrt nach Kobyłka ist nicht leicht zu bewerkstelligen.
Versteck im Haus von Jerzy und Olga Zmigrodzki, Zeichnung von Joe Lewit

Postkarte von der Freundin Iwetta aus dem Warschauer Ghetto, 1940
„Wir haben Marek als Mädchen verkleidet und ihm eins meiner Kleider angezogen. Und dann kriegte er wieder ein Kopftuch ums Gesicht, als ob er von einem Zahnarztbesuch in Warschau zurückkäme. Er sah wirklich sehr jüdisch aus.“
Ein paar Tage später schmuggelt Olga Inka und Vitek ins Haus.
„Die beiden haben von nun an gelebt wie in einem mönchischen Schweigekloster. Sie haben sich kaum bewegt und haben nur geflüstert, damit mein Onkel ja nichts herausfindet.“
Lidia und Genia bleiben in Warschau. Maria und ihre Tante Olga fahren jeden zweiten Tag nach Warschau, um einzukaufen, aber auch Marias Mutter kommt oft, um Essensvorräte und Bücher aus der Bibliothek zu bringen. Bei der Gelegenheit bringt sie oft auch Gerüchte mit.
„Inzwischen war es bekannt, dass Menschen aus dem Ghetto deportiert werden, aber niemand wusste wohin. Arbeitslager? Konzentrationslager? Gerüchte über Vernichtungslager hielten sich hartnäckig. Eines Tages brachte meine Tante Olga eine Zeitung von der polnischen Untergrundbewegung nach Hause. In der Zeitung wurde Treblinka als Speziallager für die Vernichtung der Warschauer Juden genannt. Von da an war ich sehr besorgt um meine Freundinnen im Ghetto.“
Die Familie beschließt, für den Fall einer Hausdurchsuchung ein Versteck im Keller zu bauen. Vitek, von Haus aus Ingenieur, zeichnet einen Plan, Maria und Julek beginnen mit der Arbeit.
„Das Ziel war, eine Mauer zu durchbrechen und einen Bunker unter der rückwärtigen Terrasse zu machen mit einem Fluchtweg in den Garten. Um den Lärm möglichst gering zu halten, haben wir den Mörtel um die Ziegelsteine herum mit scharfen Nägeln abgekratzt – das war harte Arbeit. Juleks Hände waren völlig aufgeschnitten und bluteten, aber es machte uns nichts, wir waren nämlich ineinander verliebt.“ Maria lacht und fährt fort: „Ehrlich gesagt waren wir sogar froh, dass wir im Keller arbeiten konnten, weil wir da nämlich unter uns waren.“
Die beiden Verliebten wollen mehr als heimliche Küsse, also fragt die rebellische Maria ihre Mutter, ob sie und Julek zusammen schlafen können. Lidia ist nicht erfreut und meint, dass ihre achtzehnjährige Tochter bis zum Ende des Krieges warten sollte, um sich ihrer Gefühle auch wirklich sicher zu sein. Aber als Julek schließlich offiziell bei Lidia um die Hand ihrer Tochter anhält, gibt sie nach.
„Meine Mutter zauberte eine Flasche Wodka auf den Tisch, und die Familie erklärte, dass wir verheiratet seien und von nun an auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen dürften.“
Währenddessen wird Genia, die noch in Warschau lebt, von Juden-Jägern in ihrer Wohnung aufgespürt und, nachdem sie kein Geld bezahlt, übel zugerichtet. Nach diesem Vorfall ziehen auch Marias Mutter und Schwester nach Kobyłka.
„Jetzt waren wir neun im Haus. Ich werde nie erfahren, ob Onkel Jerzy wusste, dass die ganze Familie im Haus lebt. Wenn er es wusste, hat er jedenfalls nie ein Wort gesagt.“
Maria und Julek bauen nun mit doppelter Kraft an dem Versteck im Keller.
„Wir haben oft Geschichten gehört von Leuten, die im Versteck lebten und denunziert worden waren. Und wenn man sie fand, gab es immer nur ein Ergebnis: den sicheren Tod.“
Es gelingt den beiden, einen schmalen Gang im Keller zu graben .
„Wir haben dabei eine Menge Sand herausgeholt, den haben wir im Garten herumgestreut, so, dass die Nachbarn nichts merkten. Julek hat dann Onkel Jerzys Weinregale benutzt, um einen Kaninchenstall zu bauen. Den wollten wir vor den Eingang des Verstecks stellen, um für den Fall des Falles die deutschen Schäferhunde zu täuschen.“
Nachdem Marias Onkel Jerzy Zmigrodzki stirbt, ist das Haus – für Außenstehende – ein Vier-Frauen-Haushalt. Vitek, Inka, Julek und Marek leben nach wie vor versteckt und können das Haus nicht verlassen.
Olga wird von einem Nachbarn angesprochen, der sie gut kennt. Er eröffnet ihr, dass er für die Armia Krajowa (AK) arbeite, die größte polnische Untergrundbewegung, und bittet Olga um Unterstützung. Die etwa 400.000 Untergrundkämpfer der Armia Krajowa sabotieren deutsche Züge, die in den Osten fahren, sprengen Brücken, befreien Gefangene und Geiseln, liefern sich Kämpfe mit Einheiten der Polizei und Wehrmacht und liefern wichtige militärische Informationen an die Alliierten. Jeder Untergrundkämpfer, der in die Hände der Deutschen gerät, wird unweigerlich exekutiert .
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