Bühlow zog einen gelben Schnellhefter aus seiner Umhängetasche. Er nahm großformatige Schwarz-Weiß-Fotos heraus und breitete sie auf dem Tisch neben seinem Teller mit Pflaumenkuchen aus: Es waren Aufnahmen vom Tatort, von einem toten Körper, der in einer Blutlache lag. Von der Wunde in Nahaufnahme und von dem Torso. Ein Foto zeigte den Tatort aus größerer Entfernung, das Aaseeufer und die Torminbrücke. Die Polizeiabsperrungen.
»Dr. Hattkämper sagt, dass die Tatwaffe nicht irgendein Messer sein kann«, erklärte Bühlow. »Der Mörder hat ein hochwertiges Schwert benutzt, eine Art Samuraischwert mit einer außergewöhnlich scharfen Klinge.«
De Jong schob die schlimmen Fotos zusammen und gab sie Bühlow zurück. Einen Menschen zu töten, indem man ihm den Kopf abschlug, machte die Sache in seinen Augen auf eine irrationale Art und Weise noch schlimmer. Es blieb ein Torso zurück, der weniger menschlich aussah, nur wie der klägliche Rest von einem Menschen. Der Exkommissar entschied, dass er sich in seinem Leben genug Tatortfotos angeschaut hatte. »Noch ein Stück Kuchen, Herr Kommissar?«, fragte er.
»Die Sache ist die«, sagte Bühlow, während er de Jong seinen Teller zum Auflegen hinhielt, »dass es in den Thrillern des Ermordeten richtig zur Sache geht. Da wird fast nie geschossen, sondern immer zerstückelt, gehäutet und gekocht. Das neue Buch, das morgen mit großem Medienrummel auf den Markt kommt, handelt von einem Täter, der seine Opfer aufisst.«
»Frauen«, sagte de Jong und nickte. »Also warum sucht ihr euch nicht besser eine Profilerin, statt mir die Zeit zu stehlen, die ich dringend für meine literarischen Inspirationen benötige?«
» Der Köpfesammler «, sagte Bühlow.
De Jong verzehrte noch etwas Pflaumenkuchen und schenkte Bühlow dann einen fragenden Blick.
»Das ist zwar nicht sein aktuelles Buch. Es kam vor ein paar Jahren heraus und handelt von einem Mann ohne Kopf, der umgeht und seine Opfer mit einem Schwert enthauptet.«
»Du meinst also, der Mörder bezieht sich auf dieses Buch?«
» Der Köpfesammler , genau.« Bühlow setzte ein listiges Lächeln auf, das etwas Unwiderstehliches an sich hatte, wie de Jong verwundert zur Kenntnis nahm. »Und da kommst du ins Spiel.«
De Jong konnte sich nicht verkneifen darauf hinzuweisen, dass es sich hier mitnichten um ein Spiel handele. Aber eigentlich wollte er nur sagen, dass er überhaupt keine Lust verspürte, ins Spiel zu kommen. Es lagen deutlich wichtigere Dinge an: sich um einen Handwerker zu kümmern, der die Heizung wieder in Stand setzte, und anschließend Giulia ausfindig machen und herausfinden, wie die Chancen standen, dass sie das vergeigte Wochenende abhaken und einen weiteren Neuanfang machen konnten – den vierten oder den vierzigsten, wer wusste das schon.
Aus zwei Gründen ließ er sich aber doch auf die Sache ein: Hauptkommissar Joachim Bühlow mochte kein kriminalistisches Jahrhunderttalent sein, was sein Onkel, Eugen Küppers, offenbar glaubte. Kriminalistisch gesehen tendierte der Junge eher in Richtung Inspector Closeau. Trotzdem unterschätzte man ihn leicht. Was de Jong anging, hatte Bühlow, der mit einem rätselhaften siebten oder achten Sinn ausgestattet zu sein schien, nämlich binnen kurzer Zeit dessen Achillesverse geortet: de Jongs Trägheit, wenn es darum ging, nein zu sagen. Oder: nein heißt nein. Oder: mir doch egal, mach was du willst. Bühlow hatte schnell begriffen, dass bei de Jong »nein« auch »na ja, vielleicht doch« heißen konnte. »Völlig ausgeschlossen« konnte gleichbedeutend sein mit »geht eigentlich nicht, es sei denn …«
Ein Mann ohne klare Kante, hatte Giulia ihn deshalb mal genannt. Und in einem Streit war auch noch Weichei dazugekommen, worauf de Jong ihr vorgehalten hatte, dass sie hart gekochte Eier noch nie gemocht habe. Und dass die Fähigkeit, seine Meinung zu ändern, von Intelligenz zeuge. Bühlow war pragmatischer. Er nahm die Neinschwäche de Jongs als das, was sie war: als ein Potenzial, das er für sich zu nutzen verstand.
So kam de Jong ins Spiel.
Gegen Mittag radelte er zum Aasee, um sich einen ersten Eindruck vom Tatort zu verschaffen. Das erwies sich als recht schwierig, nicht nur weil die Spurensicherung das Ufer großräumig abgesperrt hatte. Sondern auch, weil die schockierenden Nachrichten die Touristen hergelockt hatten. Davon gab es eine Menge in Münster, und Touristen zählten bekanntlich zu den neugierigsten Spezies überhaupt. Hunderte von ihnen lungerten am grasbewachsenen Seeufer herum, blockierten die Joggingstrecken, sodass auch die Läufer nicht anders konnten, als zu stoppen und einen Blick auf das abgesperrte Areal zu riskieren. Von der Seeseite näherten sich ganze Flottenverbände von Ruder- und Tretbooten, die einige Polizeibeamte zur See nur mit Mühe davon abhielten, an Land zu gehen und den Tatort zu entern. So gut wie alle Schaulustigen hielten ihre Smartphones in die Höhe – ein seltsamer Anblick, als wäre der erhobene Arm eine Geste der Anteilnahme oder der stumme Gruß einer verschworenen Geheimsekte.
Natürlich gab es keinen Leichnam zu sehen. Die Handys starrten vielmehr auf das Meer aus Schnittblumen, die Fans und entsetzte Bürger jenseits der Absperrung niedergelegt hatten. Dazwischen steckten auch Fotos und Bücher von Charles Nöck, handgemalte Pappschilder, auf denen Du fehlst uns!, Wir sind Charlie! und Was soll jetzt werden? stand. Das letzte konnte de Jong nur lesen, indem er sich auf die Zehenspitzen stellte und über die Köpfe hinweg und zwischen den erhobenen Handy-Armen hindurchlinste. Und dann rempelte ihn jemand von hinten an und beschwerte sich, dass de Jong ihm »mitten im Bild« herumstehe.
Der Exkommissar wandte sich ab und trat den Rückweg an, geriet auf dem Weg zu seinem Fahrrad noch in eine gut besuchte Krimi-Stadtführung. Normalerweise klapperten diese Führungen in der City alle Sets ab, an denen Thiel und Börne schon mal gedreht hatten, heute war die grauenhafte Tat gut für einen aktuellen Abstecher an den Aasee, weil man endlich mal einen »authentischen« Mord-Schauplatz besichtigen konnte. De Jong hielt still und ließ das Menschenrudel an sich vorüberziehen, dann atmete er durch und schwang sich auf sein Rad.
Angesichts des Rummels hielt er es für besser, sich seine Informationen schriftlich zu verschaffen. In der Innenstadt angekommen, besorgte er sich eine Tageszeitung, bestellte in einem Café einen Kaffee und widmete sich dem Aufmacher auf der ersten Seite.
BRUTALES GEMETZEL UNTER DER TORMINBRÜCKE
Münsteraner Starautor ermordet .
Die Bürger unserer friedliebenden Stadt stehen zusammen angesichts einer brutalen Mordtat. Seit gestern Nacht scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Charles F. Nöck, ein Sohn dieser Stadt und großer Schriftsteller, ist nicht mehr. Er wurde das Opfer eines feigen Mordanschlages. Ingolf Bolte, der Agent des Autors und sein langjähriger Freund: »Charlie wollte sich einfach nur am Aasee die Beine vertreten. Das hat er oft gemacht, wenn er sich vor einem großen Auftritt sammeln wollte.« – Der große Auftritt, damit ist der Start seines neuen, mit großer Spannung erwarteten Werkes gemeint, der als ein Mega-Event der Extraklasse in die Annalen der Stadt eingehen sollte. Zahllose Fans aus aller Welt sind nur deswegen angereist, die Hotels der Stadt sind komplett ausgebucht. Leser, die sich auf Mord und Totschlag gefreut hatten und denen der Spaß daran jetzt fürs Erste vergangen ist .
Bis jetzt gibt es noch keine Spur, wer hinter dieser barbarischen Tat stecken könnte. Hauptkommissar Armin Selters, der Leiter der Mordkommission, kündigte indes an, dass man alles unternehmen werde, um den Mord so bald wie möglich aufzuklären .
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