Nöck nimmt noch einen Schluck aus dem Flachmann. Eigentlich achtet er sonst peinlich darauf, dass es nicht zu viel wird. Immer nur ein paar Schlucke pro Abend. Schließlich will er sich nicht die Kante geben. Nur hier, am idyllischen Aasee, am Vorabend seines beispiellosen Triumphes, hat es ihn übermannt. Die Flasche ist schon fast leer, und die herbstliche Abendstimmung hat angefangen, sich leicht, aber stetig um ihn zu drehen.
Der Frauenesser . Morgen wird der neue, mit Ungeduld erwartete Mega-Thriller starten, und es wird ein Paukenschlag werden. Die Fans sind geradezu verrückt danach. Viele mögen der Ansicht sein, der globale Hype, der seinerzeit um jeden neu erscheinenden Harry-Potter-Band veranstaltet wurde, sei nicht mehr zu toppen. Nöck hält das für Unsinn. Und er wird es beweisen. Nicht nur mit der üblichen glamourösen Multimedia-Show in der ausverkauften Messehalle. Er, der Star, im Outfit seines Serienmörders, des Frauenessers. Und darüber hinaus findet im Foyer des Landesmuseums am Abend darauf ein festliches Bankett für prominente Fans statt, auf dem ein riesiger Kuchen in Frauenform angeschnitten wird. Der Bürgermeister hat zugesagt, irgendein berühmter Torhüter vom FC Bayern kommt, und selbst das Bistum schickt einen Abgesandten. Anschließend geht es zurück in die Halle Münsterland zu einer Multimedia-Lesung und anschließendem Krimi-Talk mit hochkarätigen Gästen, der übrigens live in Aspekte gesendet wird. Den Ausklang des Spektakels schließlich bildet der Auftritt der Band Manson unlimited , für die der Autor höchstselbst den Leadgitarristen gibt.
Charles Nöck geht ein paar schwankende Schritte. Was für ein Gefühl von Freiheit, hier am See zu wandeln, fernab vom lauten medialen Trubel. Auftanken zu können in der Abgeschiedenheit der städtischen Grünfläche. Kräfte zu sammeln für den großen Auftritt.
Eine ältere Dame mit einem winzigen, hamsterförmigen Hund an einer Aufroll-Leine kommt ihm entgegen. Der Minikläffer schnüffelt am Gras, sie mustert ihn, aber er hat plötzlich keine Lust mehr darauf, erkannt zu werden. Berühmtheit kann nerven … und wie.
Er bleibt stehen, und während er durchpendelt, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen, atmet er die kalte Herbstluft ein. Direkt vor ihm hebt sich die Tormin-Brücke schwarz und monströs gegen den Nachthimmel ab. Ein denkmalgeschütztes Bauwerk aus grobem Beton, das Autos, Radfahrer und Fußgänger über den See befördert und das Gewässer damit in zwei Hälften teilt: den alten und den neuen Aasee. Im Sommer stehen bis spät in die Nacht Straßenmusiker unter der Brücke, die den Hall nutzen. Natürlich nicht in Nächten, die so kalt sind wie diese.
Und doch steht da jemand.
Nöck blinzelt. Der Whisky, der ihm so guttut, hat ihm ein winziges bisschen die Sinne vernebelt, sodass seine Augen nicht richtig scharfstellen können. Was nicht bedeutet, dass er gar nichts erkennen kann. Da steht eine Gestalt, männlich, ziemlich kräftig, hünenhaft geradezu, mitten auf dem Gehweg, der unter der Brücke durch seitlich am See entlangführt. In einen dunklen Umhang gehüllt. Das Gesicht wird vom nächtlichen Schatten verdeckt. Oder täuscht er sich? Die Gestalt macht einen Schritt vorwärts, aus dem Schatten heraus, in seine Richtung. Und jetzt sieht er es ganz deutlich, trotz des alkoholbedingten Drehwurms: Da ist kein Gesicht. Nicht mal ein Kopf!
»Echt super«, murmelt Nöck beeindruckt. Mit dem Flachmann prostet er dem Ankömmling zu. »Hey, alter Bekannter, was verschafft mir die Ehre? Du bist nicht zufällig meinetwegen hier, oder was?«
Der Mann ohne Kopf antwortet nicht, wie sollte er auch, ohne Mund. Aber Nöck weiß auch so Bescheid. »Hatte ja keine Ahnung, dass hier und heute schon die Promo anfängt. Zu später Stunde.«
Eine Weile stehen sie sich gegenüber. Dann kichert Nöck. »Ich kenn dich. Ich hab dich nämlich erfunden, was sagst du dazu? Hier drin wurdest du geboren!« Mit dem Finger stupst er an seine Stirn. »Ohne Kopf, aber mit dem tödlichen Schwert, das bist du. Du hast doch das Schwert dabei, oder?«
Ja, der Mann hat ein Schwert. Er zieht es unter seinem Mantel hervor und reckt es hoch in den Nachthimmel. Wie ein Ritter, der in die Schlacht zieht. Im Roman blitzt es furchterregend im Mondlicht, aber heute steckt der Mond hinter einer dichten Wolkendecke, also blitzt es nicht. Man kann die Klinge gerade mal erahnen. Und dass sie sich auf Nöck zubewegt.
»Hey, pass aber schön auf damit! Die Dinger sind messerscharf …«
Anstatt diesen Rat zu beherzigen, holt der Kopflose aus. Im weiten Bogen. Nicht wie ein Ritter in der Schlacht, eher wie der Henker von London.
»Nein, Vorsicht, du Idiot! Hey! Mit dem Ding, du könntest jemanden damit verl…«
Charles Nöck spricht nicht weiter. Der Mann mit dem Schwert hat ihm im wahren Sinne das Wort abgeschnitten. Und nicht nur das. Nöcks Autorenhaupt – mit einem schiefen, ungläubigen Grinsen im Gesicht – kullert das grasbewachsene Ufer hinab.
Es war schon Mitte November. Hin und wieder wehte von irgendwoher der Duft nach Glühwein und gebratenen Kastanien herüber – Weihnachten war noch weit weg, und das Wetter gab sich alles andere als winterlich; nur der Einzelhandel, gehetzt vom Fluch der Umsatzmaximierung, konnte sich nicht um altertümlich winterliche Bräuche scheren, geschweige denn um Feste, deren Zauber darin bestand, dass sie nur einmal im Jahr stattfanden und man ihnen langsam und behutsam entgegenfieberte.
Exhauptkommissar Niklas de Jong ärgerte sich über den Kastaniengeruch. Er verstärkte jene winterliche Stimmung, die sich – auch wetterunabhängig – gerade seit dem heutigen Morgen in seinem Inneren ausbreitete. Es war halb elf am Vormittag, ein grauer Dienstagvormittag. Vor einer guten halben Stunde war Giulia abgereist.
Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen. Mehr als vielversprechend. Alles versprechend. Als Giulia am Samstagabend überraschend angerufen und sie lange gesprochen hatten. Dass sie sich immer wieder getrennt hatten und doch nie voneinander losgekommen waren, jedenfalls nicht so richtig. Was ja wohl auch etwas zu bedeuten habe. Und sie vorgeschlagen hatte – sie hatte es von sich aus vorgeschlagen! – ob sie noch einen neuen Versuch miteinander starten sollten. Nach all den Jahren die Uhren auf Null stellen. Alles auf Anfang. Natürlich hatte de Jong nicht lange überlegt. Keine Sekunde. Was gab es da auch zu überlegen? Sicher, er kannte Giulia lange genug, um zu wissen, dass die Sache nicht ganz ohne war und eventuell kompliziert werden konnte. Dass bei allem Enthusiasmus Behutsamkeit und Fingerspitzengefühl gefordert waren. Aber er wusste, worauf er sich einließ, und das schloss auch das Wissen darum ein, dass sich jeder Aufwand lohnte.
Und es war ein Neuanfang geworden, der nichts zu wünschen übrig ließ – genauer gesagt, er hatte anfangs nichts zu wünschen übrig gelassen: Der Montag war ein urgemütlicher Tag in der Stadt gewesen, kühl zwar, aber bei strahlendem Sonnenschein, gekrönt durch ein romantisches Abendessen bei dem Italiener, den sie so manches Mal aufgesucht hatten, um einen Jahrestag zu begehen, dessen abschließender Höhepunkt in romantischem Sex auf dem Oude Meisje bestanden hatte. In dieser Nacht hatte de Jong mitten im Herbst keinerlei Herbstgefühle verspürt, stattdessen vielmehr intensive Frühlingsgefühle. Und das – davon war er felsenfest überzeugt – wäre genau so weitergegangen, wenn die Heizung nicht ausgefallen wäre. Ein banaler technischer Defekt, nichts weiter, machte alle Romantik und allen Neubeginn zunichte.
Zugegeben, es kam nicht von ungefähr. Die Heizung hatte nicht erst seit gestern, sondern immer mal wieder gezickt, nur hatte de Jong das im Sommer schlicht aus den Augen verloren. Ein fataler Fehler, der sich jetzt rächte, denn die Heizung war schließlich nicht irgendeine Anlage unter vielen anderen, so wie die Wasserleitung, die Klospülung oder die Kaffeemaschine. Der Heizung kam eine herausragende, geradezu beziehungsrelevante Stellung zu. Vor allem jetzt, in diesen Nächten, in denen das Thermometer hin und wieder unter null Grad fiel, wenn auch nur ganz geringfügig. Affenkalt, sagte Giulia. Nicht kalt, sondern affenkalt. Keine Wärmflasche in einem noch so flauschigen Bärenkostüm, keine zusätzliche Wolldecke vermochte etwas gegen diese Affenkälte auszurichten. Was aber de Jong streng genommen auch nicht überraschen konnte, denn Giulias berüchtigte Verfrorenheit war ihm seit Jahrzehnten vertraut. Frieren mochte nur in gewisser Weise eine Tätigkeit sein und schon gar niemand bezeichnete sie als Kunst oder Sportart. Trotzdem blieb es eine Tatsache, dass in Sachen Frieren Giulia so leicht niemand das Wasser reichen konnte. Ihre Frostanfälle waren berüchtigt und kamen mitunter völlig unerwartet, wie aus dem Nichts, sobald nur die Temperatur unter die Zwanzig-Grad-Marke fiel: Giulia war imstande, mitten in der Sonne einen Winterpullover überzuziehen, zur Verblüffung aller Umstehenden und ohne vor Hitze auch nur ansatzweise umzukommen. Und nicht nur einmal hatte sie es geschafft, mit Mütze und Handschuhen an einem Strand auf einem Handtuch zu sitzen.
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