Douglas sieht sich um. Was den anderen so viel Spaß verspricht, macht ihn unsicher. Als er sich einen Sitzplatz gesucht hat, fängt er an, einen Achtundvierzigstundenplan zu entwerfen. Den Abend wird er so herumbekommen wie an jedem anderen Wochentag auch, da macht er keinen besonderen Unterschied. Er wird sich also vor seine Videowall setzen, ein Bier aufmachen und bis zur Besinnungslosigkeit Reiseberichte auf dem Traveller Guide oder Dokumentationen auf dem Science Channel sehen. Oder natürlich zocken. Alles andere ist ihm zu lästig, zu laut, zu aufdringlich. Am Samstag wird er früh aufstehen. Und dann? Douglas überlegt.
Letzte Woche ist er im städtischen Freibad seines Quadranten abgetaucht. Diese Woche könnte er eine Radtour zum Grüngürtel machen. Wobei der Teil des Grüngürtels, den er von seiner Wohnung aus am schnellsten erreichen kann, seinem Namen zurzeit wenig Ehre macht. Da wellt sich nichts Grünes bis zum Horizont, da ist alles graubraun verdorrt. Der Boden ist nach intensiver Bewirtschaftung ausgelaugt und wird neu aufbereitet. Die saftigen Weidegründe wandern währenddessen gegen den Uhrzeigersinn um City, Getto und Suburbia herum.
Im Augenblick befinden sie sich im zweiten Quadranten, im tiefen Südwesten. Er lebt im Nordwesten. Wenn er also wirklich Grün sehen will, dann hat er einen langen Weg vor sich. Oder er macht es sich einfach, schnappt sein Fahrrad, steigt wieder in die U-Bahn Richtung Süden und kürzt die Strecke auf diese Weise ab. Aber wer nimmt sein Rad schon mit in die Bahn? Das fällt doch nur unnötig auf.
Douglas beschließt, hart zu sich zu sein. Das ist leichter, als sich den leeren Stationen und seinem leeren Leben zu stellen. Also nimmt er sich vor, während er auf seinem genormten Hartplastiksitz über die Schwellen und Weichen der U-Bahn hinwegrattert, am Samstagmorgen in den Westen zu fahren und von dort aus am Rand von Suburbia südwärts zu radeln, solange bis ihm die Puste ausgeht. Irgendwann wird er danach wieder zu Hause ankommen, halb tot zwischen die Laken kriechen und traumlos bis in den Sonntagvormittag hineinschlafen. Nach einer langen Dusche wird er sich an den Rechner setzen und die Arbeit der letzten Woche überprüfen, während die Wäsche in der Trommel rotiert. Vielleicht wird er hinterher noch einen Spaziergang durch sein Viertel machen. Vielleicht aber auch nur putzen.
Douglas kraust die Stirn. Es sind ihm eindeutig zu viele »Vielleicht« in seinem Plan, aber der Tag war lang, er mag sich nicht mehr konzentrieren, er sehnt sich auf die Couch.
Als er eineinhalb Stunden später dort liegt, ist er für einen langen Augenblick glücklich. Vier Flaschen Stout tragen dazu bei. Auf dem Bildschirm laufen Musikvideos ohne Ton. Douglas nickt dazu in dem Rhythmus, den ihm sein Pulsschlag vorgibt. Jetzt muss er es nur noch in sein Bett schaffen und einschlafen, bevor das allgegenwärtige Grübeln einsetzt.
Bedächtig schwingt er die Beine über die Sofakante und setzt die bloßen Füße nebeneinander auf den kühlen Fließestrich. Nach drei Atemzügen erhebt er sich mit einem Ruck. Ein kurzer Schwindel erfasst ihn. Dann schleppt er sich ohne Umweg über das Badezimmer zu seinem Bett und fällt mit dem Gesicht voran in die Kissen. Schon glaubt er, gewonnen zu haben, da blitzt ein Bild vor seinem inneren Auge auf.
Mommy!
Douglas ist wieder Kind, ist wieder zweieinhalb Jahre alt. Er ist in den Kleiderschrank gekrabbelt, den Mommy aufgelassen hat. Poppa ist nicht da, das kennt Douglas bereits. Poppa kommt erst spät nach Hause, wenn Douglas schon im Schlafanzug in seinem Bettchen steht. Douglas wartet auf Poppa, kann erst dann schlafen, wenn der Vater nach ihm gesehen hat. Mommy ist deswegen wütend, immer wieder wird es laut hinter der Tür, die Poppa nach dem Gutenachtkuss hastig hinter sich schließt.
Wenn Mommy alleine ist, dann ist sie ganz anders. Sie nennt Douglas ihren kleinen Prinzen. Er weiß nicht, was das bedeutet, aber sie klingt warm und weich, wenn sie das sagt, also muss es etwas Gutes sein. Douglas ist vergnügt, als er in den Schrank krabbelt. Es ist dunkel hier und alles riecht nach Mommy. Er greift mit beiden Händen in die Kleider, sodass die Bügel aneinander klicken. Seine Finger sind vom synthetischen Honig verklebt. Das erste Kleid rutscht vom Bügel, dann das zweite. Douglas verschwindet unter einem Haufen Tüll und Chiffon. Es wird stickig. Douglas beginnt zu greinen.
»Was in Teufels Namen?« Mommy ist plötzlich da. Sie brüllt, das Gesicht ist wutverzerrt. »Satansbraten! Wie oft habe ich dir gesagt, dass du hier drinnen nichts zu suchen hast?« Sie holt Luft. Der rechte Mundwinkel krampft spastisch. Sie fällt in sich zusammen.
»Das sind meine Sachen. Alles, alles meine Sachen.« Mommy brüllt nicht mehr, Mommy quengelt. Mit einem Ruck zerrt sie ihm den Chiffonalbtraum vom Kopf. Douglas sieht, wie sich ihre schlanke Silhouette gegen das helle Rechteck der geöffneten Schranktüren abhebt. Mit dem Licht kehren auch die Farben zurück. Mommy fällt auf die Knie und birgt das Gesicht in dem hellblauen Stoff.
Sie holt tief Luft, hebt wieder den Kopf und lächelt auf das Kleid hinunter. Da krampft es erneut in ihrem Gesicht. Der rechte Mundwinkel verzerrt sich.
Mommy dreht und wendet das Kleid in den Händen. »Wann habe ich das gekauft? Wo habe ich es gekauft? Und warum?« Auf ihrem Gesicht spiegelt sich Erstaunen wider. Verwunderung. Schließlich Ekel. »Das trägt doch nur eine Nutte. Eine billige Nutte, die sich als reiche Frau tarnt. Aber letztlich geht es immer nur um das eine. Beine breitmachen.«
Douglas ist längst vergessen. Mommy steht auf, zerrt den Stoff hinter sich her ins Badezimmer und stopft ihn in die Badewanne. Aus dem Waschbeckenunterschrank greift sie sich das Waschbenzin, kippt es über die Chiffonfederwolke. Douglas ist ihr gefolgt. Mit großen Augen steht er im Türrahmen und sieht, wie sie ein Zündholz anreißt und in die Wanne fallen lässt. Die Flammen schlagen hoch. Es riecht nach geschmolzenem Plastik. Mit einem Ausdruck katzenhafter Zufriedenheit steht Mommy daneben.
Da. Der Mundwinkel zuckt spastisch.
»Nein, nein, nein!« Wieder das kleinkindhafte Greinen. »Meine Sachen, meine wunderschönen Sachen!« Mommy wirft sich auf die Knie. Versucht, die Flammen mit der bloßen Hand auszuschlagen.
Da hält sie für einen Moment inne. Holt Luft. Spastischer Krampf. Mundwinkel außer Kontrolle.
»Verdammt noch mal. Wer hat diese Sauerei angestellt?« Mommy ist wieder auf die Füße gesprungen und dreht den Wasserhahn auf. Die Flammen ersaufen unter dem sprudelnden Strahl. Sie lässt sich schwer atmend auf den Toilettendeckel sinken. Birgt das Gesicht in den Händen. Wischt sich über die Augen. »Scheiße«, murmelt sie. »Was ist nur passiert?«
Douglas verliert den Halt und plumpst auf den Hosenboden. Schon will er losgreinen, doch er verschluckt sich an der ersten ungeheulten Träne.
Mommy sieht unwirsch zu ihm hinüber, als wüsste sie nicht, was sie nun auch noch mit ihm anstellen soll. Hat sie nicht genug Sorgen? Sie holt tief Luft, muss sich sortieren. Da zuckt es erneut um ihren Mundwinkel. Sie springt von ihrem Sitz auf, den Blick auf Douglas geheftet, warm jetzt und liebevoll.
Sie klaubt ihn vom Boden auf und wiegt ihn in ihren Armen. »Shhh, mein Prinzchen. Alles ist gut. Alles ist gut.«
Douglas windet sich in ihrem Griff. Er hat Angst vor ihr.
Douglas presst sich die geballten Fäuste auf die Augen. Der Gegendruck vertreibt normalerweise diese Nachbilder. So auch heute. Aber das Gefühl der Unsicherheit bleibt. Douglas ist, als ob der Boden schwanken würde, als ob er weich und nachgiebig wäre. Das Stout, verordnet er sich selber eine Erklärung. Das war eine Flasche zu viel, definitiv.
Er dreht sich auf den Rücken. Schon kehrt die Übelkeit zurück. Wellenförmig drängt es ihm die Kehle hinauf. Er schluckt ein paar Mal trocken und säuerlich, fragt sich derweil, ob er den Weg zur Nasszelle schaffen würde, und entscheidet sich dagegen. Also aushalten. Immer aushalten. Er wird nicht kotzen, wenn er es nicht zulässt.
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