»Hallo?« Douglas nimmt die Hände herunter und stützt sie in den Seiten ab. »Geht es Ihnen gut?« Keine Antwort. Das Schwanken verstärkt sich.
Douglas zögert nicht. Er klettert, so schnell es geht, den Damm hinauf. Schließlich kommt er schnaufend neben der Frau zum Stehen. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« Er fasst sie leicht am Ellenbogen, um sie zu stabilisieren.
»Wo kommen Sie her? Wo gehören Sie hin?« Er weiß nicht, was er sonst sagen oder fragen soll. Schon will er nach seinem Smartphone greifen und Hilfe herbeirufen, da fällt ihm etwas ein.
Es sieht alles danach aus, dass hier ein Reset ausgeführt werden muss. Vorsichtig streicht er der Frau die Haare über die Schulter und tastet hinter ihr rechtes Ohr. Nach einem Moment der Suche findet er den Schalter des Sockets.
Für einen Augenblick zögert er. Eigentlich ist er zu einem Eingriff dieser Art nicht befugt. So etwas ist nur den Mitarbeitern der MedCon gestattet. Aber es geht nur darum, einen Schalter umzulegen, nicht mehr. Danach kann er der Fremden immer noch sagen, dass sie zum Sanitätsdienst vor Ort gehen soll. Das würde beiden Zeit sparen.
Er holt tief Luft und schiebt den Schalter vor, bis er einrastet. Einen Wimpernschlag lang tut sich nichts. Dann sieht man förmlich, wie das Leben in ihre Augen schießt.
»Finger weg«, bellt sie, reißt sich los und tritt zu. Sie trifft sein Schienbein. Douglas taumelt nach hinten. Er will protestieren, doch er erhält keine Gelegenheit dazu. Der nächste Tritt trifft genau ins Schwarze. Und während Douglas sich keuchend am Boden windet, dreht sich die Fremde wortlos um und verschwindet in den Straßen Suburbias.
Als die dunkelroten Schmerzwellen nachlassen, kämpft sich Douglas langsam wieder auf die Beine. Er taumelt zum Stein hinüber, lehnt sich dagegen und zieht sich sehr langsam und hoch konzentriert die Socken und die Sneakers wieder an. Jede hastige Bewegung lässt den Schmerz wieder aufflammen, der ansonsten einem dumpfen Brandungsrauschen gleicht. Flüchtig denkt er daran, dass er den Sanitätsdienst jetzt tatsächlich in Anspruch nehmen könnte. Aber wie soll er den Vorgang erklären, ohne dabei zuzugeben, dass er sich in Sachen eingemischt hat, die ihn nichts angehen? Dass er das Persönlichkeitsrecht eines anderen auf seelische und geistige Unversehrtheit verletzt hat?
Er schüttelt den Kopf. Sie hat sich gewehrt. Besser gesagt, ihre Beschützerpersönlichkeit hat sich gewehrt. Das ist zwar ihr gutes Recht, aber ihm ist das jetzt gerade scheißegal. Soll sie doch mitsamt all ihren Facetten vor einen Bus laufen!
Douglas beißt die Zähne zusammen. Dann greift er sich sein Rad, schiebt es neben sich her und macht sich so auf den langen Heimweg. Er hat weniger gesehen als geplant und dabei mehr gefühlt als beabsichtigt, aber sei’s drum. Douglas kühlt seinen Schmerz in eisigem Sarkasmus. Der Trip hat genug Ablenkung mit sich gebracht. Douglas denkt an nichts anderes als seine schmerzenden Hoden und den nächsten Schritt. Einen Fuß vor den anderen setzen, nur das zählt jetzt. Die Stimmen in ihm schweigen. Das Lachen aus dem Salzmeertraum hat keinen Platz in seinem Hirn. Douglas verzerrt die Lippen zu einem schwachen Grinsen. Gut so.
Kaynee liegt in der Wanne und spürt den letzten Stunden nach. Kandy hat sich ausgetobt – auf der Tanzfläche in den verschiedenen Clubs. Im Letzten hat sie sich selbst an die Stange gestellt. Mit Kandy ist es immer ein Ritt auf der Achterbahn. Während die Fahrt in die Stadt die Spannung aufbaut, ist der Eintritt in den ersten Club der Anfang des Abstiegs. Mehr Musik, mehr Alkohol, mehr Männer. Und je länger Kandy unterwegs ist, desto mehr verliert sie den Halt. Das ist einer der Gründe, warum ihr Ausgang so reglementiert wird.
Kaynee schließt die Augen. Sie erinnert sich an die letzte Notiz im Übergabeprotokoll. »Stan is’n Arsch. Wovon träumt der nachts? Entwarnung: Da war nichts. K.« Also hat Kandy nicht die Beine für ihn breitgemacht.
Kaynee legt aus einem Reflex heraus die rechte Hand über ihre Scham. Rot schießt es ihr in die Wangen. Sanders? Nein! Aber wenn nichts war, dann kann sie ihm morgen ja ganz unbefangen gegenübertreten. Was für ein Glück.
Sie entspannt sich wieder und zieht die Hand zurück. Einen Moment später lässt sie sich noch tiefer in das warme Wasser gleiten.
Sanders mit den Hundeaugen. Sanders mit seiner klebrigen Freundlichkeit. Sanders ist eigentlich nur dann erträglich, wenn er als Sudresh durch die Gänge geistert oder in seinem Labor residiert. Oder, wenn er als Steward mit den Besuchern arbeitet. Sanders’ Sozial-Ich ist ihr viel, viel lieber als sein Privat-Ich.
Professorin Paulson hat recht – man muss nicht jeden mögen. Die Chemie muss nicht stimmen. Aber seit der Effizienzdiversität kommen alle viel besser miteinander klar. Denn auf der Arbeit herrscht Neutralität, Objektivität, Professionalität.
Kaynee lächelt leicht. Sie selber hat noch nicht den Einen getroffen, der sie von den Füßen haut – oder auch nur einen Teil ihrer selbst um den Verstand bringt. Wer weiß, kann es das überhaupt geben in einer derart aufgespaltenen Welt? Dass jemand wirklich jeden Aspekt des Anderen mit offenen Armen aufnimmt?
Kaynee holt tief Luft und taucht in das Badewasser ab. Hat’s doch noch nie gegeben! War doch alles immer nur ein Kompromiss gewesen, schon damals.
Nach ein paar ergebnislosen Gedankensprüngen nach rechts und nach links, taucht Kaynee wieder auf. Sie ist sich selbst genug und das ist ein schönes Gefühl. Keine Abhängigkeiten, keine unerfüllte Sehnsucht. Alles fein.
Sie steht auf, greift zur Brause und spült die letzten Schaumreste von ihrem Körper. Zum Schluss stellt sie den Wasserstrahl auf kalt, solange bis sie kreischend aus der Wanne springt.
Als sie sich in ihren Bademantel hüllen will, verschiebt sich etwas in ihrem Geist. Es ist ähnlich wie tags zuvor, nur kräftiger, entschiedener. Kaynee wird davon überrumpelt. Der Mantel fällt zu Boden, sie greift stattdessen zum Telefon. Hastig wählt sie eine Nummer. Nach ein paar Freizeichen wird am anderen Ende der Leitung abgehoben.
»Hol mir Stan ans Telefon«, herrscht Kandy den Menschen am anderen Ende der Leitung an. »Sofort, bevor ich es mir anders überlege.«
Einen Moment später raunt sie ins Mikro, gurrt beinahe schon: »Wenn du willst. Ich bin bereit. Lass mich nicht warten, Stan.« Danach legt sie auf.
Kaynee bekommt das alles mit. Allein, sie kann niemandem Bescheid geben. Kora, Karen, Karl – da ist niemand zu erreichen. Ihre Hand lässt sich nicht überreden, den Schalter zum Arbeits-Ich umzulegen. Und so bleibt Kaynee nichts anderes übrig, als in einem Winkel ihres Bewusstseins abzuwarten, bis es an ihre Tür klopft.
Kandy hat in der Zwischenzeit die Stilettos übergestreift und ein Kropfband umgelegt. Sonst ist da nichts, das ihre Blöße bedeckt und das ist auch so geplant. Denn während sich Kaynee entspannte, ist Kandy eine Idee gekommen und die schließt Sanders mit ein. Und damit er mitmacht: Nun. Mit Speck fängt man Mäuse. War schon immer so und ist heutzutage nicht anders. Give a little, take a little. Kandy lächelt süffisant.
Es klopft ein zweites Mal. Kandy wirft sich in Positur, schüttelt die Haare zurück, legt die Hand auf die Klinke.
Kaynee versucht, Kandy ein letztes Mal zurückzuhalten. »Bitte«, fleht sie. »Tu mir das nicht an!«
»Ach, Süße.« Kandys Spott ist rauchig, dunkel und ätzt sich in Kaynees Bewusstsein. »Halt’ die Klappe und lerne. Jetzt sind die Großen dran.« Dann öffnet sie schwungvoll die Tür.
Stan steht vor ihr, sein Blick ist glasig. Er fackelt nicht lange, schnappt sich Kandy und drängt sie in das kleine Apartment. Während die Tür hinter ihm ins Schloss fällt, beginnt Kaynee inwendig zu schreien – allein, es kann sie niemand hören.
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