»Und dann?«
Der Mann seufzt. »Sie sind bei dem Handgemenge aus dem Fenster gestürzt. Wer wen gezogen oder gestoßen hat, darüber gibt es unterschiedliche Aussagen. Diese Frage bleibt wohl für immer offen.«
»Und der Kleine war nie im postnatalen CADIAS? Warum müssen immer die Kinder unter diesen verwirrten Menschen leiden?« Mistress Keen streicht sich hinter das Ohr und sieht jetzt sehr streng aus. »Das werden wir also so schnell wie möglich nachholen müssen. Aber mehr als die Basisversion wird nicht drinnen sein, Sie wissen ja, die Kosten!«
Der Mann nickt knapp. »Hauptsache, es kümmert sich jemand um ihn.«
Douglas versteht nicht alles, was die beiden bereden. Aber das Herz schlägt ihm bis zum Hals und er fühlt sich verloren.
»Kommst du jetzt?« Melody lächelt ihn zuckersüß an, dreht sich um und geht los.
Douglas zuckt mit den Schultern, folgt ihr schweigend. Er weiß nicht, was er sonst machen soll. Er weiß nur, dass Poppa und Mommy nicht mehr wiederkommen. Das hatte ihm der fremde Mann gesagt, der ihn aus der Wohnung getragen hat, als sei Douglas nicht viel mehr als eine Lumpenpuppe. Sie seien tot. Ob Douglas das verstehen würde? Und dass es niemanden geben würde, der sich um ihn kümmern wollte. Deswegen würde er jetzt zu einer netten Tante gebracht, die ganz viele andere Kinder hat, denen es ebenso ginge wie Douglas selbst.
Douglas hat keine Zeit für Tränen. Er weiß nicht, was der Mann ihm da alles zu erklären versucht. Er versteht nur das eine: Mommy und Poppa sind nicht mehr da. Und nun geistert nur ein Wort durch Douglas’ gequälte Seele. »Wilde!« Zurück bleibt ein tiefes schwarzes Loch voll Angst.
Draußen vor der Tür bleibt Melody stehen. Sie greift sich an den Hinterkopf, genau hinter das rechte Ohr. Für einen Augenblick erstarrt sie, dann zuckt der Kopf wild hin und her. Einen Moment später dreht sie sich zu Douglas um, sie wirkt größer, bulliger. Der Blick ist scheel. »He, Kleiner. Dass du mich ja nicht verrätst, klar?«
Douglas sieht sie mit großen Augen an. Was hat die da gemacht? Und was sollte er schon verraten? Und wem?
Melody nestelt eine Packung Kaugummis aus ihrer Hosentasche, schiebt sich einen Streifen in den Mund und beginnt heftig zu kauen. Sie schmatzt dabei und wirkt so ganz anders, als eben noch in dem Büro von Mistress Keen. Sie mustert Douglas abschätzig. »‘n kleiner Wurm biste, nichts weiter. Pass mal ja auf, dass ich dich nicht zerdrücke. Und hey, das ist keine Warnung. Das ist ein Versprechen. Tu, was ich dir sage, dann geht’s dir gut. Aber wehe, wenn nicht.« Mel hebt die linke Augenbraue und schwenkt die rechte geballte Faust unter Dougs Nase. »Wenn diese Knospe aufgeht, gehst du unter. Verstanden?«
Douglas nickt und verschluckt seine Furcht. Ihm schwant, dass dieses Mädchen ihn nicht trösten wird. Mommy. Poppa, Wilde, Ungeheuer, Monster …
Douglas schüttelt den Kopf. Die alten Bilder sollen endlich aus seinem Kopf verschwinden, aber die Eintönigkeit des Summsumm der Reifen auf dem Asphalt ist wie ein zäher Klebstoff, an dem die Erinnerungen haften bleiben.
Douglas ist auf dem Damm unterwegs, der Suburbia umgibt. Innerhalb des Dammes – oder des Grenzwalles, wie Douglas ihn auch nennt – liegt das gelobte Land. Terra cognita. Alles ist bekannt, selbst die letzte dunkle Gasse im Getto. Es ist nicht alles schön, aber erforscht. Das gibt Douglas die Sicherheit, die er braucht. Außerhalb herrscht Wildnis. Da sind zwar die bewirtschafteten Felder, aber die sind letztlich nur ein Versuch der Menschen, der Natur habhaft zu werden, sie zu normieren und der Effizienz zu unterwerfen.
Douglas bremst sanft ab und lässt das Rad ausrollen. Warum nur scheut er sich so vor der Weite? Und warum zieht es ihn trotz dieser Furcht immer wieder auf den Damm? Er steigt ab, stellt das Rad ordentlich ab und bleibt am Rande des Weges stehen, die Arme in die Seiten gestemmt, den Blick auf die Ebene gerichtet, die ihm hier im Westen noch graubraun trostlos zu Füßen liegt. Er holt tief Luft. Schließt die Augen und denkt an den Traum der letzten Nacht zurück, an die Steilküste und das salzige, salzige Meer. Er sieht den kleinen Weg, der sich bis zum Kamm der Steilküste emporwindet, den Weg, auf dem das Lachen stiften gegangen ist. Vielleicht sollte er ihm folgen?
Douglas bläht seine Nasenflügel. Tief atmet er die schale Luft mit dem leichten Geruch nach Kunstdünger ein und stellt sich vor, das sei der Duft angelandeten Seegrases. Dann greift er sich ein Herz und beginnt in seiner Vorstellung den Aufstieg.
Der Weg ist anstrengend. Loses Geröll verrutscht unter seinen Schuhsohlen und klickert klackernd den Pfad hinunter. Kurz bevor er das Plateau erreicht, wird der Weg so steil, dass er sich mit seinen Händen abstützen muss. Auf allen vieren kriecht er den Hang hinauf, bis er sich endlich über die Kante schiebt und ins graue Salzgras rollt. Mit pumpendem Herzen bleibt er liegen und stiert in den von Wolken verhangenen Himmel. Mit einem Ohr lauscht er in die Ferne, ob er das Lachen hören kann, dieses impertinente Lachen. Aber er hört nichts als den Wind um sich herum, das Rauschen der Wellen unten am Strand und das Schreien der Seemöwen über ihm.
»He da, aufgepasst!« Ein schrilles Klingeln reißt Douglas aus seinem Tagtraum und lässt ihn einen Satz nach hinten machen. Ein Grüppchen Spandexradler rast lachend an ihm vorbei. Douglas ist vergrätzt. Blöde Typen, für wen halten die sich? Nur weil sie ihren Rädern Rennslicks aufgezogen haben und sich in grellbuntes Elastikgewebe stecken, gehört ihnen der Damm nicht allein.
Er schwingt sich wieder auf sein Rad. Alt ist es und gebraucht. Für zuverlässig befindet es Douglas, treu, stabil, sicher. Lowtech, die nicht kaputtgeht. Er tritt heftig in die Pedale.
So knapp war er davor gewesen, das Hinterland seines Traumes zu erkunden. Douglas würgt an seiner Wut. Schneller wird er, immer schneller. Bald fliegt er auf dem Damm dahin, so gut es der alten Mühle eben möglich ist, immer den Spandexclub vor Augen. Doch egal, wie er sich anstrengt, die Lücke zwischen ihnen und ihm wird immer größer. Nach einer Biegung verliert er sie endgültig aus den Augen.
Douglas verlangsamt das Tempo. Er keucht und schwitzt und ringt nach Atem. Als er den Kopf nach rechts wendet, sieht er das erste Grün. Douglas fährt langsam weiter, den Blick immer auf die Felder geheftet. Es ist der Sommerweizen, der dort heranreift. Noch ist es ein hellgrüner Flaum auf dunkler Krume, aber schon bald werden die Halme und Ähren hochstehen und sich im Wind biegen.
Douglas hält neben einem Stein an, stellt das Rad ab. Er zieht sich Sneakers und Socken aus und deponiert sie neben dem Stein. Danach richtet er sich auf. Ein Blick links, einer rechts, niemand zu sehen. Er ist tatsächlich ganz alleine hier. Douglas steigt den Damm hinunter, seine nackten Fußsohlen streifen zunächst über Unkraut und Wiesenblumen, dann erreicht er die Niederung, in der die Felder angelegt sind. Hier ist der Boden feucht und satt, er schmiegt sich an Douglas’ Sohlen. Es schmatzt leise, wenn er die Füße anhebt. Der junge Weizen ist noch weich und nachgiebig. Douglas geht vorsichtig durch die Reihen, konzentriert sich auf seine Füße, auf den Boden, auf die Kühle, die in ihn eindringt.
Irgendwann bleibt er stehen und schließt die Augen. Mit der rechten Hand tastet er nach dem Socket und legt den Schalter um. Das Sozial-Ich weicht. Douglas ist jetzt nur er selbst und niemand sonst. Er breitet die Arme aus und lässt den Wind an sich vorbeistreifen. Das ist es, denkt er. Das ist das Leben. So soll es immer sein. Und er steht weiter im Wind, eine lebende Vogelscheuche. Dabei wird sein Herz weit und leicht und das Glück fließt in ihn hinein. Es kriecht aus den Füßen zu seiner Wirbelsäule hoch und weiter in seine Brust. Von dort strömt es in die Arme und schließlich in den Kopf. Douglas fühlt sich dizzy und leicht entrückt. Kurz nur flackert sein innerer Alarmknopf auf – Achtung! Kontrollverlust! –, da holt er schon tief Luft und lässt den Atem langsam durch die Nase wieder entweichen. Für diesen Moment soll alles vergessen sein.
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