Elsa Morante - Das heimliche Spiel

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Zwölf Geschichten über die unverständliche Macht der Liebe und deren zerstörerische Kraft. Zwischen Müttern und Söhnen, Frauen und Männern, Bruder und Schwester, Eltern und Kindern. Nach Jahrzehnten wieder in der von der Autorin gewollten Zusammenstellung und in neu durchgesehener Übersetzung: Nacht für Nacht entfliehen die drei Kinder aus heruntergekommenem Adel dem trostlosen und sparsamen Dasein der Familie in die erregende märchenhafte Welt des Theaters, in die Welt der Ritter, Prinzessinnen und Schiffskapitäne, in die Welt der Komödien und Tragödien. Doch eines Tages wird ihr heimliches Spiel entdeckt …
Wie ihre vier großen Romane stehen auch diese zwölf Erzählungen (darunter «Der andalusische Schal») für die große Erzählkunst Elsa Morantes: Es sind Geschichten, die zumeist in der Welt der Kindheit spielen, einer Welt, die wenig mit dem Alter und viel mit der Unbegreiflichkeit der Dinge und den Beziehungen zwischen Menschen zu tun hat. Mit Zuneigung und Liebesentzug, mit Fürsorge und Kälte, mit Liebe und Hass. Elsa Morante versteht es meisterhaft, diese überraschenden Erfahrungen zwischen banaler Alltagswirklicheit und schwebender Ungewissheit und Bedrohung zu beschreiben.

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Erstmals erschienen diese Erzählungen 1941 unter dem Titel Il gioco secreto bei Garzanti in Mailand. 1963 veröffentlichte Elsa Morante daraus die hier vorliegende Auswahl unter dem Titel Lo scialle andaluso bei Giulio Einaudi Editore in Mailand. Die erste deutsche Ausgabe dieser Erzählungen erschien 1966 bei Claassen in Düsseldorf unter dem Titel Der andalusische Schal .

E-Book-Ausgabe 2020

© 1963 The Estate of Elsa Morante

© 2005 für die durchgesehene Ausgabe:

Verlag Klaus Wagenbach,Emser Straße 40/41,10719 Berlin

Covergestaltung Julie August unter Verwendung des Bildes Femme assise le dos tourné vers la fenêtre von Henri Matisse, 1949 © Succession H. Matisse / VG Bild-Kunst, Bonn 2005.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 978 3 8031 4291 7

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3194 4

www.wagenbach.de

Der Dieb der Totenlichter

Obwohl ich noch keine genügende Zahl von Jahren gelebt habe, um es glauben zu können, bin ich doch beinahe sicher, daß ich jenes kleine Mädchen gewesen bin. Deutlich sehe ich die enge, schmutzige Straße, wo die Risse in dem alten Verputz Figuren und Flecken zeichneten. Das fünfstöckige Haus, in dem meine Familie das oberste Stockwerk bewohnte, war das höchste der Straße. Am Ende stand die Synagoge.

Ich war nicht älter als sechs Jahre. Von den Fenstern aus sah ich die bleichen Männer vorübergehen, die dunkelhaarigen Frauen mit fast immer vulgärem oder finsterem Gesichtsausdruck, die halbnackten Kinder, die grau waren vom Staub. Gegenüber sah ich ein gelbliches Haus mit Strohmatten vor den Fenstern, und an der Seite einen geräumigen Hof, in dem kein Gras wuchs.

Oft wartete in diesem Hof eine Reihe Männer, meistens Soldaten. Einer nach dem andern traten sie für wenige Minuten in das Haus und entfernten sich dann, indem sie Sticheleien austauschten oder schwatzten. An den Fenstern im ersten Stock zeigten sich immer geheimnisvolle, lachende Frauen mit geröteten Gesichtern, schwarz umrandeten Augen und lauten, entschlossenen Stimmen. Besonders nachts hörte ich die leisen Rufe ihrer Stimmen. Wenn mein Vater aus dem Café zurückkam, forderten sie ihn auf, obwohl er nur ein buckliger Alter war: »Willst du nicht heraufkommen, schöner Junge? Komm doch!«

Meine Mutter, noch jung und schlank, hatte ein anmutiges, aber vom Kummer zerstörtes Gesicht. Bei jeder Gelegenheit schlug sie sich wütend mit den Fäusten gegen die Stirn, und wenn ich etwas falsch machte, pflegte sie mich in einem feierlichen Hebräisch zu verfluchen, wobei sie ihr verblühtes Gesicht zur Synagoge hinwandte. Dann war ich bestürzt, weil ich wußte, daß die Verfluchungen der Väter und Mütter, als Echo widerhallend, immer zu Gott gelangen.

Sobald es dunkel wurde und mein Vater sich zu seinem Café aufmachte, ging sie mit meiner älteren Schwester, die schön und hochmütig war, auf dem Stadtwall spazieren. Ich blieb zu Hause, um die Großmutter nicht allein zu lassen, denn die Alte war taub und wie aus Holz. Eine Folge von unzähligen Jahren hatte sie langsam ausgesogen, bis sie nur noch ein kleines hölzernes Skelett war, das vielleicht nicht einmal mehr sterben konnte. Ihr Kopf war beinahe kahl, und die dunklen Augenlider waren immer gesenkt. Die Hände mit den blau unterlaufenen Nägeln ließ sie reglos an den Seiten herabhängen. Zu meinem Erstaunen hatte ich entdeckt, daß sie sich Brust und Hüften umwickelte, wie man es bei kleinen Kindern macht, und über all diese Wickelbinden zog sie weite graue Lumpen. Man sagte, daß sie reich sei.

Sobald die andern ausgegangen waren, befahl sie mir mit verstümmelten Worten, die sie mühsam zwischen ihrem Zahnfleisch hervorpreßte, das Licht zu löschen; es sei unnütz, für uns beide allein Petroleum zu verschwenden. Dann wurde sie stumm und unbeweglich. Ich gehorchte, obwohl ich zitterte. Kaum hatte ich nämlich das Schräubchen an der Lampe herabgedreht, richtete sich das Gespenst der Finsternis und der Angst hinter meinem Rükken auf und zeigte an der Stelle der Augen zwei schwarze Löcher. Und ich kauerte mich ganz nah ans Fenster, um ein bißchen Helligkeit zu haben.

Die Geschichte ereignete sich vor mehr als fünfzig Jahren.

Vom Fenster aus konnte ich die Synagoge sehen, ihre wuchtige Kuppel, die Stufen und die langen Fenster mit den bunten Scheiben; und durch das Glas erspähte ich den trüben, rötlichen Schimmer der Totenlampen. Diese schmiedeeisernen Ampeln hingen im Innern der Synagoge, und wer einem Toten ein solches Licht stiften wollte, mußte dem Wächter Jusvin etwas bezahlen, damit er die Lampe mit Öl versorgte und aufpaßte, daß sie weder am Tag noch in der Nacht erlosch. Die Toten waren in ihrer Finsternis sehr viel ruhiger, wenn sie eine Lampe besaßen.

Nur von meinen Fenstern aus konnte man das Innere der Synagoge mit den roten Lichtern wahrnehmen. Ich sah den Wächter Jusvin jeden Abend die Stufen hinaufsteigen, um das Öl nachzufüllen und die Synagoge abzuschließen. Er war ein dunkelhäutiger Mann, der schön und feierlich aussah, mit schwarzen Augen und lockigem Haar und Bart. So dunkel, wie er war, glich er im Dämmerlicht einem Propheten oder einem Engel, wenn er mit seinem schwankenden Schritt zur Synagoge hinaufstieg und die schweren Schlüssel trug. Eines Abends jedoch sah ich, bald nachdem er eingetreten war, wie die Lampen eine nach der andern erloschen; dann kam er vorsichtig mit seinem Löschhütchen heraus, ein ungeheures Dunkel hinter sich lassend.

»Großmutter!« schrie ich, »Jusvin hat alle Totenlichter ausgemacht!«

»Nein«, brummelte die Schwerhörige, »es wird kein Petroleum verschwendet, die Lampe wird nicht angezündet.«

»Verstehst du nicht?« schrie ich, am ganzen Leibe zitternd, »Jusvin hat die Lichter gelöscht, die Lichter!«

»Ja, ja, Marianna wird bald zurückkommen«, er widerte sie.

Da verzichtete ich darauf, ihr jenes Geheimnis mitzuteilen. Rings um mich her sah ich die Gestalten der Finsternis, und ich zitterte vor Angst, daß sie ihre Münder öffnen und zu mir sprechen könnten. Mir graute vor dem, was sie mir vielleicht sagen würden, und vor dem, was Gott der Herr sagen würde.

Von diesem Tage an sah ich jeden Abend, wie Jusvin das Portal der Synagoge hinter sich abschloß und die Lichter löschte. Er tat es, um Öl zu sparen und an den Beträgen, die er für die Versorgung der Lampen erhielt, zu verdienen. So erklärte es mir meine Mutter; sie sagte auch, ich solle schweigen, denn der Mann habe sechs kleine Kinder, und durch eine Anzeige würde er seine Stellung verlieren. Also Stillschweigen. Gott sah ihn, und er würde daran denken, den zu bestrafen, der den Toten das Licht stahl. Gott würde Gerechtigkeit üben.

»Dieb! Dieb!« schrien all meine Sinne, wenn ich jenen Schatten langsam die Treppe hinaufsteigen sah. Ich wartete ängstlich darauf, daß seine Hände abfielen wie zwei Fetzen. Am liebsten wäre ich zur Synagoge gerannt und hätte laut gerufen: »Ich sehe dich! Ich sehe dich, wenn du den Toten das Licht stiehlst! Hast du keine Angst … vor Gott?« Doch ich blieb reglos und wie gelähmt an der Fensteröffnung stehen. Ich dachte an die Toten unter der Erde, so ganz ohne Licht. Und um nichts sehen zu müssen, bedeckte ich mein Gesicht, bis ich von neuem angezogen war von dem langen Schatten, der jetzt mit seinem Löschhütchen herabkam und in den Gassen verschwand.

Eines Abends kam er nicht, und die roten Flämmchen leuchteten ruhig hinter den Fensterscheiben. Als er nach mehreren Tagen wieder erschien, konnte er nicht mehr sprechen. Mühsam brachte er aus seiner Kehle heisere Laute und ein Gestammel hervor und riß dabei die Augen auf mit den Gebärden eines Hampelmanns, wie es die Stummen machen. Und eines Tages hallten die Gassen wider von einem tierischen Brüllen und Röcheln. Es war der sterbende Jusvin. »Das ist die Gerechtigkeit des Herrn«, sagten die Leute. Der Finger Gottes hatte seine Zunge berührt, und Jusvins verfluchte Zunge wurde nun zu einer furchtbaren Wunde. Es war ein Leiden, das die Leute nur mit Angst zu nennen wagten (mich ließ sein phantastischer Name an die Welt der grausamen Meerestiere und an eine Wendekreis in Afrika denken), und jene Schreie liefen durch alle Straßen, es war ihnen anzuhören, daß der Leib des Sünders sich wand und krümmte. Und sie gaben keinen Augenblick Ruhe, bis sie verstummten.

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