Lauter schlechte Nachrichten also? Keineswegs. Die nahenden Lawinen – Bankrott von Städten und Staaten, soziale Unruhen Marke London/Athen, Häufung von Hurrikans und anderen Klimakapriolen – verlangen Rettungskräfte, die unerschrocken agieren. Klare Köpfe, die ihre Illusionen hinter sich gelassen haben und zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu unterscheiden wissen. Kurz: Menschen, die in den 00er Jahren erwachsen wurden. Bereit für die Zukunft?
Zeitgeistentdeckung Nr. 3:
Die 00er Jahre haben nie geendet. Die Börsen spielen schon wieder verrückt, die Taliban drehen weiterhin durch, und das Internet macht die Leute noch immer ganz kirre .
Zum Weiterschauen
Die fetten Jahre sind vorbei (Regie: Hans Weingartner)
Früher war alles besser! Auf Schatzsuche in der Vergangenheit
1968 – das Jahr des Schlagers
Warum Peter Alexander revolutionärer war als Rudi Dutschke
Dorthe spottete Wärst du doch in Düsseldorf geblieben , Heintje rief nach Mama , und Roy Black stellte fest: Wunderbar ist die Welt .
Natürlich war sie das nicht. In Vietnam hagelte es Bomben, in Frankreich und Deutschland flogen Steine. Andreas Baader steckte ein Kaufhaus in Brand, und Rudi Dutschke erlitt einen Kopfschuss. Es gärte überall. Und der Schlager musste darauf reagieren. Später, in den 70ern, sollte er sich dem Zeitgeist ergeben. Versuchte sich in Gesellschaftskritik. Juliane Werding besang dann den Drogentod und Christian Anders die Großstadteinsamkeit. Das war nicht so schön.
Damals aber, im Zauberjahr 1968, glaubten noch alle, man müsse der verschärften Wirklichkeit einfach nur verschärfte Schlager entgegensetzen. So wurde der Schlager zum Rauschmittel. Mit dem Sänger als Dealer.
Vorneweg: Peter Alexander. Peter der Große. 42 Jahre alt und gerade angekommen auf dem Gipfel der Schaffenskraft. Peter Alexander war damals sogar besser als Tom Jones. Und um das jedem zu beweisen, sang er Jones-Titel auf Deutsch. Auf Komm und bedien dich (Original: Help yourself ) klingt er so überdreht und überschäumend wie nie. Hier lässt einer drei Minuten lang die Korken knallen. Entwickelt eine Vision vom Leben als Champagnerpicknick. Deshalb klingen Zeilen wie, „Ich lad dich ein, und du sagst Yes, und zum Dessert gibt’s Happiness“, auch nicht albern, sondern wahrhaftig.
Denn die Schlagerstars des Jahres 1968 wissen nicht wohin mit ihrer Lebenslust. Dorthe spricht auf der Straße wildfremde Männer an ( Sind Sie der Graf von Luxemburg? ), und France Gall trommelt zum Karneval: „Zwei Apfelsinen im Haar und an der Hüfte Bananen trägt Rosita seit heut zu einem Kokosnusskleid“ ( A banda ).
Das alles spielt nicht in Deutschland. Rosita wohnt in Mexiko. Und die Dänin Dorthe muss zum Flirten ins Großherzogtum. Die Bundesrepublik des Jahres 1968 kommt in der Schlagerwelt nicht vor. Sie war jener triste, trübe Zustand, den Revoluzzer wie Schlagersänger hinter sich lassen wollten. Die Schlagersänger hatten die besseren Lieder.
Zeitgeistentdeckung Nr. 4:
Geschichtsbücher erzählen nur die halbe Wahrheit .
Zum Weiterlesen
Christian Pfarr: Ein Festival im Kornfeld. Kleine deutsche Schlagergeschichte
Der alte Mann und der Mord
Wie sich eine Gesellschaft in ihren Verbrechen wiedererkannte
Sieben Jahre lang, von 1969 bis 1976, brachte Der Kommissar die Wirklichkeit in bundesdeutsche Wohnstuben. Und Millionen von Zuschauern staunten, wie schrecklich die Realität sein konnte.
In einem Alter, da andere in Rente gehen, legte er los. Erik Ode war 57, als er in der Rolle des Kommissars Keller seinen ersten Fall löste. Dabei halfen ihm seine drei Assistenten Robert (Reinhard Glemnitz), Walter (Günther Schramm) und Harry (Fritz Wepper, der später zu Derrick wechselte), die als Lockvogel eingesetzte Helga (Emely Reuer) und eine bedingungslos ergebene Sekretärin namens Rehbein (Helma Seitz). Sieben Jahre später hatte Keller rund hundert Mörder in Handschellen gelegt und Millionen Zuschauer gefesselt.
Der Kommissar war niemals langweilig. In keiner seiner 97 Folgen. Er war aber auch nie aufregend im Sinne eines auf Action getrimmten Til Schweiger. Das Höchstmaß an Rasanz war dann erreicht, wenn Robert, im Stile eines Aushilfs-Jerry-Cotton, über Jägerzäune hüpfte. Das sah lustig aus.
Auch sonst gab es bei Keller & Co viel zu lachen: aus heutiger Sicht. Der Kommissar war nämlich mehr als nur ein einfaches Mörder-Suchspiel. Es war eine Zeitgeiststudie in einer Zeit, in der man Zeitgeist noch nicht kannte. Natürlich gab es in jeder Folge gleich zu Beginn den obligatorischen Mord. Doch dieser diente nur als Aufhänger, sich die bundesrepublikanische Gesellschaft mal ein wenig näher anzuschauen. Der Weg war das Ziel. Und deshalb führte jede Ermittlungstour auch immer über die Stationen Doppelmoral und Exzess. Wenn Keller und Team in Anzug und Schlips in Beatschuppen hinabstiegen, sollte das aufrütteln, betroffen machen
Heute wirkt es komisch, da hoffnungslos klischeeüberladen. Hippies vor Che-Guevara-Postern delirieren zu Krautrock. Robert, Walter und Harry schütten trinkfest Bier und Klare in sich rein. Und nur Keller, dem selbst in Augenblicken höchster Spannung nie die Kippenasche auf den Boden fiel, bleibt gelassen, ist durch nichts zu erschüttern, als wolle er sagen: „Jungs, ich habe Hitler, zwei Weltkriege und eine halbe Ewigkeit Verbrechensbekämpfung hinter mir. Da werden mich doch ein paar Junkies nicht aus dem Gleichgewicht bringen.“
Keller ist der kettenrauchende Ruhepol in einer Welt des Umbruchs und Zerfalls. Eltern verstehen ihre Blagen nicht mehr, Neureiche spielen Caligula, Kleinbürger zittern vor Zuhältern. Es wimmelt von Neurotikern und Nervenärzten – und Junkies. Heute, 35 Jahre nach Christiane F., sind Rauschgiftopfer nur noch selten Stoff für Fernsehkrimis. Damals aber, als jene, die am Wirtschaftswunder mitgezimmert hatten, ansehen mussten, wie ihre Kinder auf die schiefe Bahn gerieten, war Der Kommissar die Studie, die einer ratlosen Gesellschaft allmonatlich Erklärungen lieferte.
Und wie sie das tat! Da prallten Extreme aufeinander. Dialoge als Frontalzusammenstöße. Der Kommissar war der vielleicht letzte ernst zu nehmende Versuch des Fernsehens, in einer immer mehr zerfasernden Welt noch einmal klare Fronten zu schaffen. Nicht zufällig drehte man Schwarzweiß, obgleich es damals, 1969, Farbe bereits gab. Altersstarre Väter im Zweireiher schreien hilflos ihre Langhaarkinder an (sofern diese nicht bereits ermordet waren). Und auf einmal war alles sternenhimmelklar: Warum es nicht mehr klappte zwischen den Generationen. Warum den Autoritäten die Autorität zerrann.
Das bekamen auch Keller und Gefolge zu spüren. Sie durften noch so sehr menscheln und wurden dennoch, vom Luden bis zum Sozialarbeiter, stets nur als Vertreter der Staatsmacht, also als Feinde, ausgemacht. Deshalb waren Harrys und Walters Versuche, sich an Jugend und Unterwelt ranzuschmeißen, auch selten von Erfolg gekrönt. Und nur Keller, da zu lebensklug, und Robert, da zu bieder, machten da nicht mit.
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