Jacob Burckhardt, ungefähr zur selben Zeit, kommentierte mit verhaltener Bitterkeit eine Rede des amerikanischen Präsident Grant:
»Das vollständige Programm enthält die neueste Rede Grants, welche einen Staat und eine Sprache als das notwendige Ziel einer rein erwerbenden Welt postuliert.« 46
Die Abneigung des großen Baslers gegen die Ausmerzung aller Unterschiedlichkeiten beruhten zum Teil auch auf der Furcht, daß die allgemeine Uniformität revolutionären Bewegungen mit totalitären Zielsetzungen Vorschub leisten würde:
»Eine scheinbar wesentliche Vorbedingung für die Krisen ist das Dasein eines sehr ausgebildeten Verkehrs und die Verbreitung einer bereits ähnlichen Denkweise in anderen Dingen über große Strecken.
Allein, wenn die Stunde da ist und der wahre Stoff, so geht die Ansteckung mit elektrischer Schnelle über Hunderte von Meilen und über Bevölkerungen der verschiedensten Art, die einander sonst kaum kennen. Die Botschaft geht durch die Luft, und in dem einen, worauf es ankommt, verstehen sie sich plötzlich alle, und wäre es auch nur ein dumpfes: ›Es muß anders werden!‹« 47
Die innere Verwandtschaft zwischen der Diktatur und der Gleichmacherei, dem Aristoteles 48so wohl bekannt, war auch Walter Bagehot kein Geheimnis geblieben. Dieser geniale Nationalökonom, dessen Interessen das Gebiet der Wirtschaft beträchtlich überschritten, schrieb über das zweite französische Kaiserreich:
»In France, égalité is a political first principle; the whole of Louis Napoleon’s régime depends upon it; remove that feeling, and the whole fabric of the Empire will pass away. We once heard a great French statesman illustrate this. He was giving a dinner to the clergy of his neighbourhood, and was observing that he had no longer the power to help or to hurt them, when an eager curé said, with simple-minded joy: ›Oui, monsieur, maintenant personne ne peut rien, – ni le comte, ni le prolétaire.‹« 49
Anscheinend aber hat der Gleichheitsdrang keine festen Grenzen. Der Marquis de Sade, besser bekannt durch seine sexuellen Verirrungen, war einer der originellsten Verteidiger der demokratischen Diktatur; seinen fanatischen und weltanschaulich wohl begründeten Amoralismus verband er mit der Forderung, den Grundsatz der Gleichheit nicht nur auf alle Menchen, sondern sogar auf die Tiere und Pflanzen auszudehnen 50. Es ist schade, daß sich noch niemand gefunden hat, der über dieses geistesgeschichtlich so wichtige Ungeheuer eine philosophisch-theologische Abhandlung geschrieben hätte. N. D. Fustel de Coulanges, der liberale Historiker, wußte auch, daß die Tyrannen der Antike die Gleichmacherei für ihre Herrschaft benützten:
»Sauf deux ou trois honorables exceptions, les tyrans que se sont élevés dans toutes les villes grecques au quatrième et au troisième siècle n’ont régné qu’en flattant ce qu’il y avait de plus mauvais dans la foule et en abattant violemment tout ce qui était supérieur par la naissance, la richesse ou le mérite.« 51
Dieses Verfahren, das auch Plato aufgefallen war, ist wesenhaft demokratisch – demokratisch im klassischen Sinn des Wortes. Man muß sich hierbei auch erinnern, daß der Ostrazismus im demokratischen Athen blühte und immer gegen Leute großen Formats gerichtet war, also ein Stück Aristophobie darstellte. Dostojewskij hingegen hatte seinen Blick in die Zukunft eher denn in die Vergangenheit gerichtet und sah im Gleichheitswahn die Ursache , nicht das Ergebnis der Tyrannis. Schigaljow, den Linksideologen, beschreibt er mit folgenden Worten in seinem Roman »Die Dämonen«:
»Schigaljow ist ein Genie. Er hat die ›Gleichheit‹ erfunden. Es steht alles so schön in seinem Heft. Bei ihm gibt es auch die Spionage. Er will, daß die Mitglieder der Gesellschaft sich gegenseitig kontrollieren und anzeigen. Jedermann gehört allen und alle gehören jedem einzelnen. Alle sind sie Sklaven und gleich in der Sklaverei. Im Notfall gibt es Denunziation und Mord, aber die Hauptsache bleibt doch die Gleichheit.« 52
Dies erinnert auch an Blakes Ausspruch, daß »dasselbe Gesetz für den Löwen und den Ochsen in Unterdrückung ausarten muß«. Für Jacob Burckhardt war ebenfalls die Gleichmacherei ein zerstörendes Element, das seinen verhängnisvollen Zyklus durchlaufen mußte, bis es zum Stillstand kam und somit der Welt eine Gelegenheit gab, ihr Gleichgewicht wiederzufinden:
»Das Ende vom Liede ist: irgendwo wird die menschliche Ungleichheit wieder zu Ehren kommen. Was aber der Staat und Staatsbegriff inzwischen durchmachen werden, wissen die Götter.« 53
Auch sah Burckhardt mit unerbittlicher Klarheit, daß der moderne Staat mit seiner parlamentarischen »Vorgeschichte« der Exekutor der gleichmacherischen Mehrheitsherrschaft werden würde. So schrieb Burckhardt in einem Brief:
»Ich kenne aber auch den modernen Staat, dessen rücksichtslose Allmacht sich dabei auf ganz rohe, praktische Weise zeigen wird. Er wird einfach die ungefähre Majorität in der Stimmung der Massen zum Maßstab nehmen und danach die übrigen maßregeln.« 54
Diese Schrecken, so deutete der Basler Prophet an, waren durch gewisse Tendenzen in den früheren Formen einer parlamentarischen Demokratie vorausbestimmt. Er sagte:
»Für das Seltene hat freilich die Demokratie keinen Sinn, und wo sie es nicht leugnen und entfernen kann, haßt sie es vom Herzen. Selbst eine Ausgeburt mediokrer Köpfe und ihres Neides, kann sie auch als Werkzeuge nur mediokre Menschen gebrauchen, und die gewöhnlichen Streber geben ihr alle gewünschte Garantie der Mitempfindung. Freilich fährt dann in die Massen untendran ein neuer Geist, daß sie in dunklem Drange wieder das Seltene sucht, aber sie kann dabei erstaunlich schlecht beraten sein und sich auf einen Boulanger kaprizieren.« 55
Die terribles simplificateurs , die Burckhardt als kommende Despoten erwartete, waren aber bedeutend gefährlicher und grausamer als M. Déroulèdes melancholischer Held. Und der Umstand, daß der Egalitarismus einer früheren Epoche in das darauffolgende despotische System eingebaut werden würde, war von Burckhardt nie bezweifelt worden. Geistig durchdacht war der Gleichheitswahn freilich nie, denn er fußte auf reinen Gefühlen; so ist die Gleichheit für einen totalitären Demokraten vom Schlage eines Mr. Herbert Read zugegebenermaßen irrational; sie hat für ihn lediglich den Charakter eines »notwendigen Mythus« 56. Alexis de Tocqueville aber erkannte die psychologischen Hintergründe der Gleichmacherei. Schrieb er doch:
»Égalité est un mot pris pour envie. Elle signifie au fond du cœur de tout républicain: ›Personne ne sera dans une meilleure situation que moi.‹« 57
Aus diesen und anderen Gründen ist es daher nicht wunderzunehmen, daß die modernen Diktatoren mit ihrer »Gleichheit in der Sklaverei« ihre Schreckensherrschaft immer auf das egalitäre System und die Unterstützung der Massen aufgebaut haben, nicht aber auf Eliten oder schon existierende Aristokratien. (Die langsam sich herauskristallisierenden Eliten in den Riesenheeren und den neuen Mammutbürokratien gehören auf ein anderes Blatt.) Auch der deutsche Nationalsozialismus war keine Ausnahme von dieser Regel.
3.Demokratie und Unfreiheit
Das unvermeidliche Resultat dieser nivellierenden Grundrichtungen und Eingriffe ist eine steigende antiliberale Haltung – eine Einstellung, die auch ursächlich mitgewirkt hat. Schon früher in der Geschichte hören wir Klagen über die Gleichgültigkeit der Freiheit gegenüber, und diese Klagen sind oft nicht einmal politischer, sondern philosophischer oder theologischer Natur. Dante, zum Beispiel, hat uns daran erinnert, daß die Willensfreiheit ( libertas arbitrii , um genauer zu sein) nicht immer ernst genommen wurde 58. Gerard Winstanley, ein religiös-politischer Führer im englischen Bürgerkrieg, schrieb im Jahre 1649, daß er vom leeren Geschwätz über die Freiheit angewidert sei. Er wollte Taten sehen 59.
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