Die Französische, die Russische und die Deutsche Revolution sind Kreuzwegstationen auf dieser leidvollen Wanderschaft. Ich stehe auf der Rechten, lehne aber das Etikett »konservativ« bewußt ab, weil darin keine konkrete Aussage steckt. (Bewahren? Gut! Aber doch wohl nicht alles?) Sicherlich aber bin ich ein Liberaler, also ein »Freiheitlicher«, der einer Tradition angehört, die von de Tocqueville und Montalembert bis zu Müller-Armack und Röpke reicht. In der Form einer echt gemischten Staatsform ist mein Ideal der freiheitliche Rechtsstaat, der aber gerade durch die Demokratie mit ihrer Herrschaft bloßer Ziffern nicht zu verwirklichen ist, auch nicht von der liberalen Demokratie, die an ihrer inneren Antithese von Gleichheit und Freiheit scheitern muß. Wenn Parlamente mit Mehrheitsbeschluß Ungeborene zu Nichtmenschen erklären können, hat alle Rechtssicherheit ein Ende genommen. Morgen könnten es zum Beispiel Achtzigjährige sein, die wie einst »Andersrassige« als »ungewolltes Leben« zum Freiwild werden. Auf dem krummen Weg der letzten 200 Jahre über Höhen und Tiefen hatten wir wahrscheinlich am Ende der Kaiserreiche noch ein Optimum an Freiheit und Sicherheit gehabt, wenn auch als Folge einer noch relativ jungen Technologie einen im Vergleich zu heute niedrigen Lebensstandard, der allerdings in der sozialistischen Welt wenig Fortschritt gezeigt hat. (Darum bin ich als Freund der Arbeiterschaft und Feind der halbgebildeten »Intellektuellen« ein Gegner des Sozialismus.) Doch bloßen Restaurationen soll hier nicht das Wort geredet werden. Es gilt Ordnungen zu schaffen, die an Ewigkeitsnormen organisch anknüpfen. Das Kopieren und Sentimentalisieren sollen wir in diesem wissenschaftlichen Zeitalter anderen überlassen.
Und hier kommt mein anderes Geständnis. In mehr als dreißig Jahren können Ansichten und Einsichten eines Autors nicht restlos unverändert bleiben. Zumindestens erleiden sie Akzentverschiebungen. Mit den Weltreisen begann ich erst im Jahre 1957. So ist, um nur ein Beispiel zu nennen, mein Lutherbild heute nicht ganz dasselbe wie im Jahre 1952–3. Dieser Reformator war keineswegs ein Vorläufer der Französischen Revolution, auch war sein Judenhaß (von den Nationalsozialisten weidlich ausgenützt) kein Rassismus, sondern rein religiöser Natur. Seine Auflehnung gegen Rom war ein Stück »konservativer Revolution«, ist es doch auch bezeichnend, daß es heute in den katholischen Ländern der Alten Welt keine einzige Partei gibt, die sich »konservativ« nennt. Die katholische Kirche ist ebensowenig formverharrend wie ein lebender Baum, der zwar nie wandert, aber stets wächst und neue Früchte trägt. Kein Christ kann glauben, daß durch »Konstruktionen« das Paradies auf Erden utopisch erbaut werden kann. Die Linke hat die biblische Mahnung des Turms von Babel nie verstanden. Auch sie wurde schließlich Opfer einer großen Sprachverwirrung.
Viel verdanke ich meinem langen Aufenthalt und 35 Besuchen in den Vereinigten Staaten, die – als aristokratische Republik geschaffen – das große Unglück hatten, im zweiten Viertel des vorigen Jahrhunderts zum Bannerträger einer völlig unamerikanischen, französischen Ideologie zu werden. Das Resultat waren wahre »Kreuzzüge«, um diese fremde politische Doktrin unter großen Opfern naiv weltweit zu verbreiten. Auf lange Sicht war dies nach einigen Augenblickserfolgen vergebliche Mühe. Katastrophen waren die Folgen. Auch für die Vereinigten Staaten selbst.
Einige der brillantesten Kritiker der Demokratie kamen deshalb gerade aus den Vereinigten Staaten und auch – wie zu erwarten – aus der Schweiz. Diese helvetischen Denker wußten genau, daß ihre lokalen Ideale auf andere Länder unübertragbar waren. Ihrem Angedenken widme ich auch dieses Buch. Das Vereinigte Königreich, die Union und die Schweiz waren tragischerweise auf dem weiten Erdenrund politische Irrlichter, die Völker mit ganz anderen Wellenlängen zu ihrem Verderben bezauberten und in den Bann zogen. Von Bolivien über Berlin bis zur Beringstraße endeten diese unheiligen Experimente stets mit der Tyrannis. Doch muß man es auch den Schweizern lassen, daß sie, anders als die Briten und Amerikaner, ihre Nachahmer nie ermuntert oder gar gedrängt hatten. Und dafür soll man ihnen herzlich dankbar sein.
Gleichheit oder Freiheit: Klärung der Begriffe
Die Sklaverei läßt sich bedeutend steigern, indem man ihr den Anschein der Freiheit gewährt .
Ernst Jünger, Blätter und Steine .
Diese Studien sollen Essays im engsten Sinne des Wortes sein, Versuche also, gewisse Phasen und Aspekte des ewigen Gegensatzes zwischen der Freiheit und Gleichheit, den Grundforderungen des Liberalismus und der Demokratie im klassischen Sinn, von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Es versteht sich von selbst, daß diese Studien ein so weitgestecktes Thema nicht erschöpfen können, jedoch haben wir die einzelnen Objekte unserer Untersuchung nicht zufällig, sondern aus ganz bestimmten Gründen ausgewählt.
Bevor wir uns aber noch über die so wichtige Terminologie auseinandersetzen, wollen wir über unseren weltanschaulichen Standpunkt einige Vorbemerkungen machen. Es ist klar, daß ein Autor, der politische und soziologische Erscheinungen kritisch betrachtet, von einer zumindest lose zusammenhängenden philosophischen Schau geleitet wird. Da der Verfasser dieser Schrift ein katholischer Christ ist, steht seine Philosophie in einem engen Verhältnis zur Theologie seiner Kirche, ein Verhältnis, das am besten als Koordination bezeichnet werden kann. Obwohl er vorwiegend thomistisch eingestellt ist, steht er auch stark unter dem Einfluß eines theistischen Existentialismus.
Wir hoffen, daß der nicht-katholische Leser durch dieses Geständnis nicht entmutigt oder abgeschreckt wird. Wir möchten ihn daran erinnern, daß der Thomismus nicht ein fremdartiger, esoterischer oder gar hermetischer Glaube voll geheimnisvoller Andeutungen ist, sondern, im Gegenteil, eine Philosophie, die in ihrem Streben nach objektiver Realität durch die größte Achtung für die menschliche Vernunft charakterisiert ist. Der Thomismus ist eine Philosophie des common sense , die mit solipsistischen Spielereien, einem nihilistischen Relativismus, der Leugnung der Realität aller sensorischer Wahrnehmungen und mit der krankhaften Verwerfung der Gesetze der Logik keine Geduld hat. Der thomistische Realismus wird immer darauf bestehen, daß zweimal zwei vier sind und daß zwei entgegengesetzte Behauptungen nicht zugleich richtig sein können. Insofern der Thomismus der Philosophie dieser Seiten unterliegt, birgt er nichts Magisches und Mystisches in seinen Behauptungen, sondern lediglich gesunden Menschenverstand . Gleichzeitig aber beschäftigen wir uns eingehend mit den psychologischen Reaktionen des Menschen, mit Mythen und Aberglauben. Jedoch werden wir selbstverständlich das Psychologische dem Philosophischen und bloße Gefühle der objektiven Wirklichkeit unterordnen, ohne aber das Bestehen der erstgenannten zu vergessen.
Wenn wir nun über Gleichheit und Freiheit sprechen, muß es uns vorerst klar sein, daß es sich hier für unsere Zwecke um relative und nicht um absolute Begriffe handelt, um Richtungen und Neigungen eher denn um reine Abstraktionen. In unseren Studien verstehen wir unter »Freiheit« das größte Maß an Freiheit, das in einer gegebenen Situation erreichbar, billig und möglich ist, wobei freilich diese Begriffe noch einer weiteren Erklärung bedürfen. Als ein Mittel zur Wahrung menschlichen Glücks sowie menschlicher Persönlichkeit ist die Freiheit ein mittelbares Ziel und bildet so einen Teil des bonum commune , des Allgemeinwohls. Unter diesen Umständen ist es einleuchtend, daß die Freiheit nicht brutal den Forderungen einer absoluten Leistungsfähigkeit oder den schrankenlosen Bestrebungen für materielles Wohlbefinden geopfert werden kann. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. In dieser wie in manch anderer grundlegenden Hinsicht werden die meisten unserer Leser wohl mit uns übereinstimmen, denn wenn sie auch nicht der katholischen Kirche angehören, so sind sie entweder Christen oder doch zumindest in geistig-kultureller Hinsicht Produkte der jüdisch-griechisch-christlichen Tradition, deren Allgegenwart niemand im Abendland völlig entraten kann. Wiewohl dies manche mit wechselndem Erfolg versuchen.
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