Tiano zog seine Hand zurück. Er seufzte. „Also gut. Ich werde dir erzählen, warum ich allein durch die Wälder streife. Und vielleicht sagst du mir dann deine Gründe.“ Er holte tief Luft. Zersa sah ihn an. Es schien ihm schwerzufallen, über das zu reden, worüber er reden wollte, aber es schien ihm wichtig zu sein.
„Ich glaube, ich bin ein Bastard“, begann er. Zersa legte den Kopf auf die Seite. Sie hatte keine Ahnung, was das bedeutete.
„Was ist das?“
Tiano holte tief Luft. „Mein Vater ist ein Mensch. Er ist ein Priester Hirus. Ich bin bei ihm aufgewachsen. Er hat nie über meine Mutter geredet und mich immer zum Schweigen gebracht, wenn ich ihn nach ihr gefragt habe. Er sagte mir, ich solle nicht darüber nachdenken. Aber ich merkte schon bald, dass ich anders war. Andere Jungen verspotteten mich, weil ich einfach keinen Bart bekam. Sie lachten mich aus, weil ich nirgendwo Haare bekam, wo ein erwachsener Mann Haare zu haben hat. Sie lachten mich aus und nannten mich Milchbrot, weil meine Haut so hell ist. Und dann nannten sie mich irgendwann Bastard.“ Tiano senkte den Kopf und starrte auf seine Hände. Nach einer Weile sprach er weiter
„Ich bin auf der Suche nach meiner Herkunft. Und ich glaube, dass sie irgendwo hier in den Wäldern liegt. Ich habe den Wald immer geliebt. Er hat mich immer zu sich gezogen. Schon als kleiner Junge bin ich einige Male meinen Lehrern entwischt, weil ich lieber im Wald sein wollte als über Büchern zu sitzen und schreiben, lesen und rechnen zu lernen. Mir war es wichtiger, einfach zu leben.“
Zersa spürte seinen Blick, sie sah sein Lächeln. Er wirkte verlegen.
„Vielleicht ist das alles dumm“, murmelte er und zupfte an dem Verband auf seiner Brust.
Zersa schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte sie. „Das ist nicht dumm. Es ist nie dumm, wenn man wissen will, woher man kommt. Wir wissen es. Die Uruni sind Kinder der Waldmutter. Viele vergessen es langsam, weil ihr uns von Hiru und Alnea erzählt.“
Tiano nickte. „Ich schloss mich Priestern an, die mich mit in die Wälder nahmen. Ich arbeitete für sie, im Gegenzug ließen sie mich mitkommen. Aber ich trennte mich von ihnen, als wir im Lager bei eurem Dorf in Streit gerieten. Ich sagte ihnen, sie sollten damit aufhören, euch euer Leben wegzunehmen und euch ihres aufdrängen zu wollen. Was für einen Menschen gut ist, muss für euch nicht richtig sein. Wir entzweiten uns darüber so sehr, dass ich allein weiterzog. Irgendwann hätte ich mich sowieso von ihnen getrennt, um weiter zu suchen. Ich wollte ihnen nicht sagen, warum ich mit ihnen in die Wälder gegangen bin.“
Zersa versuchte, in Tianos Gesicht zu lesen, während er sprach. Sagte er das nur, um ihr zu schmeicheln? Wollte er, dass sie ihm vertraute? Sie sah ihn an und rief die Kraft der Ata. In seinen Augen sah sie tief hinter all der ihn wie eine Aura umgebenen funkelnden Abenteuerlust Schmerz. Einsamkeit und Leid. Und Hunderte von Fragen, auf die kein Mensch eine Antwort wusste. Kein Mensch. Aber vielleicht der Wald. Die Mutter. Und die Uruni. Sie beugte sich zu ihm.
„Ich hole meine Sachen. Ich muss dich neu verbinden.“ Zersa kletterte nach unten und war in Windeseile mit ihrem Beutel wieder oben auf dem Baum.
Tiano wehrte sich nicht, als sie begann, den Verband zu lösen, das Blut abzuwischen und die Schrammen wieder mit Salbe zu bestreichen. Während sie arbeitete, suchte sie nach Worten.
„Pehaja ist nicht die Einzige, die umgebracht wurde“, murmelte sie schließlich. „Es gab mehrere solcher Todesfälle, und immer sah es so aus, als sei es ein wildes Tier gewesen, das das getan hat. Gestern früh ... wurde ich zu einer Stammesschwester gerufen, deren Kinder in der Nacht gerissen worden waren.“
Tiano schaute sie an, Mitleid in seinem Blick. „Du konntest nichts mehr für sie tun?“
Zersa unterdrückte nur mühsam ein Fauchen. „Ich wurde nicht geholt, weil ich Heilerin bin. Ich wurde geholt, weil sie mich für die Mörderin halten.“
Tiano zuckte zusammen. „Warum?“
Zersa senkte den Blick. „Ich war es nicht. Ich bin eine Heilerin. Ich kann ein Tier töten, um es zu essen. Aber ich kann keinen Uruni töten. Glaubst du mir, Tiano?“
Als sie ihn fragte, wurde ihr schmerzlich bewusst, wie sehr sie sich wünschte, dass ihr jemand sagte, sie sei unschuldig. Er sollte es sagen. Jetzt.
Sie spürte seine Hand unter ihrem Kinn. Sanft hob er ihr Gesicht und sah ihr in die Augen.
„Ich glaube dir“, sagte er. „Du hast mir geholfen. Deine Hände sind sanft. Du hast ganz sicher niemanden umgebracht.“
Warum tat es so gut, das zu hören? Von ihm? Diesem Men schen, der nicht wusste, wer er war und woher er kam? Warum fühlte sich seine Berührung so gut an? Zersa schloss für einen Moment die Augen. Wann hatte sie das letzte Mal jemand mit so viel Freundlichkeit und Dankbarkeit angesehen und berührt? Musste erst ein Mensch kommen, damit sie sich wieder gemocht fühlte? Sie schluckte. Die verdammten Tränen kamen schon wieder. Sein Daumen wischte sie fort.
„Warum weinst du?“
„Wegen der Toten. Weil ich ...“ Sie würgte die Tränen hinunter. „Ich habe noch drei Tage Zeit, herauszufinden, wie sie gestorben sind, Tiano. Wenn es mir nicht gelingt, werden die Ältesten mich töten. Sie glauben, dass ich es war. Und ich muss mich dafür rechtfertigen. Wenn ich nicht beweisen kann, dass ich es nicht war, dann bin ich eine Verurteilte.“
Eigentlich wollte sie sagen: Ich habe Angst. Ich will nicht sterben.
„Zersa, du hast mir geholfen. Ich will mich erkenntlich zeigen. Kann ich dir helfen?“
„Du bist verletzt. Ich weiß nicht, wie. Die Zeit ist knapp.“
Tiano atmete tief durch. Zersa spürte seinen Blick, spürte, wie er sich in ihre Augen senkte. Sie wollte wegschauen, aber sie konnte es nicht. Tianos blaue Augen zogen sie in ihren Bann. Als er die Hand ausstreckte und ihre Wange berührte, zuckte sie nicht zurück. Einen Moment zögerte sie, dann lehnte sie sich an seine Hand und rieb sich leicht daran. Er wischte ihre Tränen ab. Und dann war er auf einmal sehr nah neben ihr. So nah, dass sie die Wärme seines Körpers spüren konnte.
„Wie schön du bist“, hörte sie ihn flüstern.
Schön, sie?
Sie hatte sich immer hässlich gefunden, dunkelhäutig wie sie war und mit kaum sichtbaren Geisterflecken auf ihrer Haut. Ihre Augen waren gelb – als Kind hatte sie sich immer gewünscht, die grünen Augen ihrer leopardenfarbigen Mutter zu haben. Doch sie hatte die schwarze Haut und die gelben Augen ihres Vaters geerbt und musste damit leben, dass die anderen sie Schattenkatze nannten.
„Ich habe noch nie eine von deinem Volk so nahe gesehen“, murmelte Tiano wieder. „Ich wollte mich nie in eure Belange einmischen und bin euch deswegen fern geblieben, auch wenn ich euch faszinierend finde und gern mehr über euch wüsste. Wie ihr lebt. Ob es noch andere Stämme gibt. Ich mochte Katzen schon immer.“ Sein Arm kroch um Zersas Taille. Einen Moment lang versteifte sie sich.
„Ich ... bin auch zum ersten Mal einem Menschen so nah“, flüsterte sie. „Ich wollte sie nie an mich heranlassen, weil ich immer glaubte, sie verstünden nicht. Ich weiß nicht warum, aber ich glaube, du bist anders. Ja. Ja, Tiano. Ich will, dass du mir hilfst, wenn du es kannst. Ich will den Mörder finden.“
Tiano nickte. Er zog sie an sich heran, und Zersa ließ es geschehen. Sie war so müde. Und sie war lange genug allein gewesen. Es fühlte sich zu gut an, einen anderen so nah bei sich zu spüren. Ein lebendes, atmendes Wesen. Jemand, der ihr zuhörte ohne zu verurteilen. Sie schluckte. Ob er immer noch so ruhig bei ihr sitzen würde, wenn er erfuhr, dass sie eine Ata war?
Zersa lehnte sich an und schloss die Augen. „Ich weiß nicht, ob das gut ist“, murmelte sie.
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