Das Tier. Ein Pfeil.
Jemand war dazugekommen, als er versucht hatte, sich diese geifernde Bestie vom Hals zu halten. Er erinnerte sich an raues Fell und harte Schuppen unter seinen Händen, einen muskelbepackten, geschmeidigen Tierkörper, ein Maul mit faulen Zähnen und kräftige Klauenpfoten, die ihm über der Brust die Haut zerkratzt hatten. Das Vieh hatte ihn von seinem Baum gezerrt! Es hatte ihn ins Bein gebissen und ihm fast die Schulter zerfetzt. Tiano tastete wieder nach den Verbänden, dann richtete er sich noch einmal auf, langsamer dieses Mal und sehr vorsichtig. Er war beinahe nackt unter der dünnen Decke, die aussah, als sei sie aus feiner Wolle gewoben worden. Tiano ließ die Decke von sich herabrutschen und betrachtete seine Brust. Große Blätter bedeckten seine Haut, sie klebten an ihm durch die seltsame grüngelbe Paste und waren zusätzlich noch mit dünnen Lederbändern festgebunden. Auch an seinem Bein befand sich so ein merkwürdiger Blätterverband, und die weniger tiefen Kratzer und Schrammen waren mit derselben Paste bestrichen. Tiano wischte ein wenig davon ab und stellte fest, dass unter der Paste seine malträtierte Haut bereits zu heilen begonnen hatte. Er hatte noch nie so eine Salbe gesehen, noch nie solche Kräuter gerochen und noch nie einen solchen Verband gesehen. Wer hatte ihm geholfen? Er griff nach dem Ledersack. Wasser? Tiano zog den Verschluss heraus und schnupperte. Es roch ein wenig nach Kräutern, ein wenig nach feuchtem Leder, aber nicht schlecht. Vorsichtig trank er einen Schluck. Oh ja, es war Wasser, aber anscheinend nicht nur. Etwas schien hineingemischt, Kräutersaft oder der Saft einer sauren Frucht. Es schmeckte angenehm und es löschte den Durst wie nichts, das er zuvor getrunken hatte. Tiano ließ alle Vorsicht fahren und leerte den Schlauch bis zur Hälfte, so gut schmeckte dieses Wasser.
Wenn der, der mich verbunden hat, es für mich zurückgelassen hat, dann sicher nicht, um mich zu vergiften, nachdem er mich vorher zusammengeflickt hat.
Tiano nahm eines der Päckchen und betastete es vorsichtig. Es roch gut, ein wenig nach Rauch, nach Fleisch, Honig und Brot. Vorsichtig löste er die Lederschnur. Die Blätter klebten aneinander, Tiano zog sie auseinander, und einige Streifen Trockenfleisch und drei kleine Fladen fielen ihm in die Hände, dazu getrocknete Beeren. Tiano nahm einen der Fladen und biss hinein. Es schmeckte süß, wie eine Mischung aus Brot und den steinharten Keksen, die die Kundschafter als Verpflegung bekamen. Er aß alle drei Fladen, dann die Beeren und schließlich auch das Trockenfleisch. Alles schmeckte gut, frisch und würzig, als sei auch das Fleisch vor dem Trocknen noch mit einer würzenden Paste eingerieben worden. Zuletzt leckte er sogar den wilden Honig von den Blättern und schaute nachdenklich auf die beiden anderen Päckchen, als ihm etwas ins Auge fiel, das er zuvor gar nicht bemerkt hatte. Im Moos neben dem Proviant lag ein Pfeil. Ein kurzer Pfeil aus schwarzem Holz, blau, gelb, rot und grün gefiedert und mit einer Spitze, die aussah, als sei sie aus Stein. Tiano griff nach dem Pfeil und drehte ihn in den Händen. Hatte so ein Pfeil das Tier getroffen und in die Flucht geschlagen? Vorsichtig berührte er die Spitze. Sie war scharf, hatte böse Widerhaken und schimmerte im matten Licht wie Metall, auch wenn sie ganz eindeutig aus Stein geschlagen war. Tiano hatte solchen Stein schon einmal gesehen – in der Stadt. Die Menschen dort tauschten ihn bei den Wilden gegen Schmuck, Papier, Süßigkeiten und Kleidung ein und machten ihrerseits Schmuck daraus. Waldsilber nannten sie es, es gab billigen Schmuck für die, die sich kein richtiges Silber leisten konnten. Der Bogen, von dem ein so kleiner Pfeil abgeschossen wurde, konnte selbst nicht groß sein. Und das bedeutete, dass auch der Schütze eher klein und zierlich gewesen sein musste. Ein Uruni? Aber warum sollte ein Uruni einem Menschen helfen?
Tiano legte den Pfeil wieder zurück und schaute noch einmal auf die Proviantpäckchen. Er entschloss sich, sie erst einmal liegen zu lassen. So, wie er sich im Moment fühlte, würde er nicht weiterziehen und schon gar nicht jagen oder Nahrung sammeln können. Der Blätterunterschlupf bot ein wenig Schutz, vielleicht sogar vor dem Tier. Es war geflohen, das hatte er noch mitbekommen. Vielleicht würde es so bald nicht wiederkommen. Aber vielleicht kam sein mysteriöser Helfer zurück. Diese Augen. Die Stimme. Er wollte wissen, wer ihm geholfen hatte - und warum.
Tiano ließ sich auf das Lager zurücksinken und zog die Decke über sich. Er spürte, wie ihn der kurze Moment, den er aufrecht gesessen und gegessen und getrunken hatte, ermüdet hatte. Vielleicht war es gefährlich, wieder einzuschlafen. Aber so sehr er sich auch bemühte, wach zu bleiben, es gelang ihm nicht. Immer wieder fielen ihm die Augen zu, und irgendwann kam der Schlaf und zog ihn in bleischwarze Tiefen. Goldene Augen geisterten durch seine Träume, ein schmales, dunkles Gesicht, sanfte Hände und eine Stimme, die klang, als würde das Rauschen des Waldes selbst mit ihm sprechen. Er fühlte sich sicher in seinen Träumen.
Als Tiano das nächste Mal erwachte, wusste er sofort, dass er nicht allein war. Es war dämmrig, ob noch immer oder schon wieder, konnte er nicht sagen. Langsam öffnete er die Augen einen Spalt breit und versuchte, sich umzusehen und dennoch den Anschein zu erwecken, als schliefe er noch. Es gelang ihm nicht, er sah nur Grün um sich herum und einige matte Lichtreflexe. Es roch anders. Ein wenig nach Feuer. Und da war noch ein Geruch in den Luft, den er nicht deuten konnte. Er erinnerte ihn an etwas Wildes, etwas Ungezähmtes, Unfassbares. Tiano öffnete die Augen und richtete sich leicht auf.
Da war sie.
Goldene Augen richteten sich auf ihn. Die Frau war klein und zierlich. Sie kniete am Fußende seines Lagers, ganz an die Wand des Unterschlupfes gedrückt. Wie ein Waldtier wirkte sie, fluchtbereit, aber aufmerksam, in ihren Augen stand keine Angst. Sie hielt einen kurzen Bogen quer über ihren Knien, die Sehne war gespannt, ein Pfeil locker aufgelegt. Ein ähnlicher Pfeil wie der, den Tiano neben seinem Lager gefunden hatte. Tiano konnte den Blick nicht von ihr nehmen. Sie war schön. Langes schwarzes Haar floss in wilden Wellen bis zu ihren Hüften herab, gebändigt durch ein Stirnband aus geflochtenem Leder. Sie trug wenig Kleidung, nur eine Art breiten Kragen, der bis über ihre Brüste reichte, und einen Gürtel um die Hüften, an dem ein rockartiger, kurzer Schurz befestigt war. Ihre Füße waren nackt, ihre Haut dunkelbraun, fast schwarz. Sah es nur so aus, oder war ihre Haut wirklich unregelmäßig gefleckt?
Er sah auf. Goldene Augen. Katzenaugen mit geweiteter Pupille.
Tiano holte tief Luft und brachte sich vorsichtig in eine sitzende Position. Er biss die Zähne zusammen, als es in seiner Brust zu spannen und zu stechen begann.
„Ka nisha!“ Die Frau hob eine Hand in einer besänftigend wirkenden Geste.
„Ka nisha. Nicht aufstehen. Du bist verletzt.“
Sie sprach die Sprache der Städter, ein seltsamer Akzent färbte die Worte, aber Tiano konnte sie gut verstehen. Ihre Stimme war tief, ein wenig rauchig klang sie, wie ein sanftes Schnurren. Er hielt still. Dann schlug er die Decke zurück und deutete auf die Verbände.
„Warst du das? Hast du mir geholfen?“
Sie legte den Kopf auf die Seite als würde sie lauschen, dann nickte sie.
Tiano lächelte und hoffte, dass diese kleinen Wilden diese Geste nicht als Drohung verstanden. Sicherheitshalber hielt er den Mund geschlossen und die Zähne bedeckt.
„Ich danke dir.“ Er versuchte, sich im Sitzen leicht zu verneigen und zuckte zusammen. Es tat weh.
„Nicht bewegen. Hinlegen.“ Die Frau deutete auf das Lager. „Deine Wunden sind tief.“
Tiano nickte, doch er legte sich nicht hin, sondern nahm den Pfeil in die Hand.
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