„Ich war zuhause“, sagte sie mit fester Stimme. „Ich habe den Tag in den Wäldern verbracht und gejagt und gesammelt. Ich bin erst zurückgekommen, als die Sonne schon untergegangen war. Danach habe ich mich um meine Beute gekümmert. Dann bin ich schlafen gegangen.“
„Hat dich jemand gesehen?“ Shias Stimme klang wie eine Herausforderung.
„Nein. Ich ging nicht über den Versammlungsplatz. Da waren mir zu viele Menschen.“
Sie spie das Wort aus wie eine faule Frucht. Shia fauchte leise.
„Vor drei Tagen hat dich auch niemand gesehen, als du angeblich mitten in der Nacht aus dem Wald gekommen bist. Vor einer Woche auch nicht. Vor einem halben Mond nicht und vor einem Mond ebenfalls nicht. Aber das Blut auf deinem Tuch wurde gesehen und das Blut in deinem Hof.“
„Ich habe einen Schimmerfasan und eine Waldratte geschlachtet, und mich dabei mit ihrem Blut befleckt. Bei der Waldmutter, habt ihr euch noch nie beim Schlachten dreckig gemacht? Ah, nein. Ihr schlachtet ja nicht mehr. Ihr esst die Süßigkeiten, die die Menschen euch zustecken.“
Nun fauchte auch Zersa.
„Genug“, knurrte Ano. „Sei vorsichtig mit dem, was du sagst, Manums Tochter, und sprich weiter. Aber beleidige uns nicht.“
Zersa neigte den Kopf und würgte ihre Wut hinunter.„Ich habe euch die Federn und das Rattenfell gezeigt, reicht das nicht?“ Sie hob die Hände zum Blätterdach des Waldes.
„Wer ist letzte Nacht getötet worden?“
Anos Augen wurden schmal. „Meine Seherin sagte mir, dass du diejenige bist, die uns das sagen würde.“
„Ich habe niemanden getötet. Wie oft denn noch, Ältester? Ich habe Beute gemacht, ja. Ich bin eine Uruni vom Wildkatzenstamm. Ich jage und ich esse das Fleisch meiner Beute, so wie wir alle es tun sollten, aber ich habe keinen Uruni getötet.“
Ano nickte. „Komm mit, Zersa.“
Der Älteste und seine beiden Begleiter führten Zersa in die Mitte des Dorfes. Ihr Magen krampfte sich zusammen, als sie erkannte, an wessen Hütte ihr Weg enden würde. Immer mehr Uruni kreuzten ihren Weg oder schlossen sich ihnen an und mehr als einmal traf ein offen feindseliger Blick Zersa. Ihre Ohrspitzen zuckten. Sie fühlte die Blicke im Nacken. Hätte sie Fell gehabt, es hätte sich gegen ihren Willen gesträubt. Numa und Ojo. Erst vor einigen Tagen hatte Numa ihr zweites Kind bekommen, eine Tochter. Ihr älteres Kind, ein Sohn, war drei Sommer alt.
Bitte nicht.
Zersa spürte Livos Hand zwischen ihren Schulterblättern. „Geh weiter, Hexe.“
Hexe.
Es tat weh, so genannt zu werden, nur weil in ihr die alte Gabe der Uruni erwacht war. Es geschah nicht mehr oft. Zersa war in ihrem Stamm, so weit sie wusste, die letzte gewesen. Und ob es bei den anderen Stämmen noch Uruni-Ata gab, war deren wohlbehütetes Geheimnis. Niemand sprach mehr darüber. Zersa erinnerte sich noch gut daran, als sie noch ein Kind gewesen war, wie stolz ihre Großmutter gestrahlt hatte, eine Ata in der Familie zu haben. Doch schon ihre Mutter hatte sie gelehrt, ihre Gabe zu verschweigen. Als die Menschen kamen und die Waldmutter von der beschützenden Gottheit immer mehr in die Rolle einer Dämonin gedrängt wurde, wurden auch die Ata, die Gestaltwandler und Hüter des Erbes der Stammestiere, zu Dämonen. Zersa war eine Ata. Und damit war sie verdächtig. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis man sie aus dem Dorf jagen oder hinrichten würde. Dass sie es noch nicht getan hatten, war nur Ano zu verdanken, der ohne Beweise niemanden verurteilte. Zersas Schuld war nicht bewiesen.
Ebenso wenig meine Unschuld.
Und das war das Problem.
Zersa zuckte zusammen, als sie den Geruch frisch getrockneten Blutes wahrnahm. Uruni-Blut. Ihr wurde schlecht. Das Summen der Fliegen in der Nähe von Numas und Ojos Hütte war so stark, dass es beinahe in den Ohren dröhnte. Und dieser Blutgeruch. Der metallische Geschmack überzog ihre Zunge, kroch in ihren Hals und füllte ihren Mund. Es machte ihr nichts aus, ein Tier zu schlachten. Aber der Geruch von Uruniblut ließ sie würgen.
Jemand heulte auf.
Livo stieß Zersa noch einen Schritt vor. Sie stolperte in den kleinen Garten vor Numas Hütte. Numa hockte am Boden, ihr leopardengeflecktes Gesicht war tränenüberströmt. Ojo saß neben ihr, er hatte die Arme um sie gelegt und hielt sie fest, als ob er ihren schmalen Körper daran hindern wollte, zu zerbrechen. In Numas Armen hing leblos das, was vom Körper ihres Sohnes übrig war.Vor ihr im Gras deckten blutdurchtränkte Blätter eine kleine Gestalt ab. Die winzige, schwach gestreifte Hand eines Säuglings ragte heraus, zur Faust geballt. Die roten und schwarzen Tigerstreifen hatte Numas Tochter von ihrem Vater Ojo geerbt.
Numas Kinder.
Zersa spürte, wie ihr die Tränen kamen.
Es tut mir so leid, Numa. Es tut mir so leid, Stammesschwester. Mein Herz weint mit deinem.
Sie wusste, dass Numa ihre Gedankenworte nicht würde hören können. Nur ein Ata konnte die Gedanken eines anderen Atas hören. Dennoch hob Numa den Kopf und sah sie an. Ihre Augen waren gerötet und glommen vor Hass.
„Du“, fauchte sie, „du wagst es, zu mir zu kommen? Reicht es dir denn nicht, was du getan hast?“ Ihr Blick schoss zu Ano.
„Sie war es. Sie muss es gewesen sein. Gestern bei Sonnenuntergang sind meine Kleinen verschwunden, und sie war den ganzen Tag fort! Sie hat sie in die Wälder gelockt, sie hat sie so zugerichtet und dann hat sie sie mir vor die Tür gelegt, um mir das Herz zu brechen! Sie hat das getan, weil ich den Mann bekommen habe, den sie begehrt hat.“
„Was?“ Zersa musste sich zusammenreißen. Sie spürte, wie der hysterische Lachkrampf in ihrem Inneren brodelte.
„Ich soll ... was? Numa, nein. Ich habe deine Kleinen nicht getötet. Das könnte ich nicht. Es sind Kinder, Kinder sind heilig vor der Waldmutter! Die Waldmutter würde mich niemals ein Kind töten lassen. Nie! Ja, ich war wütend und traurig, weil Ojo mich nicht wollte. Aber ich habe es verwunden und ich tötete nicht aus Rache deine Kinder. Deine Trauer lässt dich solche Worte sagen. Ich war es nicht, Schwester.“
„Nenn mich nicht Schwester! Nie wieder! Ich kenne dich nicht, Ata!“ Numa begann, sich vor- und zurückzuwiegen und wimmerte in das blutige Haar ihres Sohnes. „Geh weg, Ata, und komm nie wieder. Geh. Ano, schick sie weg! Töte die Mörderin ...“
Zersa schluckte und wandte sich ab. „Ich bin keine Mörderin, Ano. Das schwöre ich bei der Waldmutter. Ich habe die Kleinen nicht getötet.“ Und auch die anderen nicht.
Sie hielt inne, als das Gemurmel der anderen Stammesgeschwister um sie herum immer lauter wurde. Manche fauchten und wandten sich dann ab. Frauen schlugen das Zeichen Alneas, einige Männer flüsterten Hirus Namen und manch einer betete laut zu den neuen Göttern. Zersa spürte ihr Misstrauen und ihren Hass.
Wer sollte getötet haben, wenn nicht die verfluchte Ata?
Die Menschen glauben, wir opfern der Waldmutter. Ja, das tun wir, aber wir opfern doch kein Blut!
Zersa senkte den Kopf, dann sah sie Ano an.
„Willst du, dass ich den Stamm verlasse, Ältester? Dann ziehe ich noch heute in die Wälder und komme niemals zurück.“
„Wer sagt mir, dass du sie nicht getötet hast, Zersa?“
Ano sah ihr in die Augen. Sie richtete sich auf.
„Ich“, sagte sie, leise aber fest, „und möge die Waldmutter meine Zeugin sein.“
Ano nickte. „Ich habe einen Entschluss gefasst. Kommt auf den Dorfplatz. Livo, ich will, dass alle dort sind. Versammle sie. Dann will ich verkünden, was ich mit Zersa Ata, Manums Tochter, tun will.“
Sie wurde zum Beratungsfeuer gebracht, um das hölzerne Bänke aufgestellt waren. Ano führte sie zum Feuer, dann warteten sie, bis der Stamm versammelt war. Alle kamen, bis auf Numa und ihre Mutter. Ojo saß dicht am Feuer und betrachtete Zersa mit unverhohlenem Hass in den gelben Augen. Ano wartete, bis es still geworden war.
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