In Tianos Träumen erreichte das Wesen die Plattform und beugte sich schnaufend über sein Schlaflager. Als er die Augen öffnete, sah er in das Gesicht des Tieres, das mit geifernd geöffneten Kiefern über ihm stand, ihm modrigen Atem ins Gesicht blies und ihn aus milchigweißen Augen anstarrte. Tiano schrie auf – und fand sich allein in seiner Baumhütte wieder. Draußen ging eben die Sonne auf.
Tiano schloss die Augen und ließ sich noch einmal auf sein Moosbett zurücksinken. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Fast konnte er den Atem dieses Tieres noch riechen. Und noch immer sah er diese widerlichen blinden Augen über sich. Er schauderte. Was würde er jetzt für einen heißen Tee geben! Aber dafür musste er erst einmal Wasser finden. Das bisschen, das er noch in seinem Lederschlauch hatte, reichte gerade, um den ekligen Geschmack aus seinem Mund zu vertreiben und den übelsten Durst zu löschen. Er fühlte sich wie zerschlagen. Ohne Appetit kaute er einige Streifen des trockenen und schon leicht angeräucherten Fleisches, dann kletterte er von seinem Baum hinunter, um sich anzusehen, welche Spuren der unheimliche nächtliche Gast hinterlassen hatte.
Tiano spürte den eisigen Schauer, der ihm über den Rücken lief, als hätte ihn jemand mit Gebirgswasser überschüttet. Sein Magen krampfte sich zusammen. Die Klauen des Wesens hatten sich tief in die Baumrinde gegraben und dicke Fetzen von Fasern aus dem Stamm gerissen. Zähes weißes Harz tropfte aus der Wunde im Holz. Um den Baum herum waren Pflanzen und Pilze zertreten, der Boden war aufgewühlt. Im Gestrüpp hingen einige Büschel drahtiger schwarzer Haare und einige der seltsamen kleinen Hornplättchen. Tiano schluckte.
Dasselbe Ding, das den Uruni getötet hat.
Den Tag verbrachte er damit, eine Quelle ausfindig zu machen und sein Lager zu sichern. Am Boden legte er Fallstricke aus und bastelte aus einer leeren Fruchtschale und einigen Samen eine Vorrichtung, die klappern würde, wenn das Ding über einen der Stricke stolperte. Tiano arbeitete, bis es dunkel wurde. Seine Arbeit sah gut aus und es sorgte dafür, dass er sich ein wenig sicherer fühlte. Zufrieden wischte er sich den Schweiß von der Stirn und zog sich die Strickleiter herunter. Er hatte gerade einen Fuß auf die erste Sprosse gesetzt, als er das Schnaufen hinter sich hörte.
Er erstarrte einen Augenblick lang. Helle Panik packte ihn und er begann, wie von Furien gehetzt, zu klettern. Hinter ihm schnaubte es. Tiano roch den Gestank seines Verfolgers. Dann schlug eine Klauenpfote nach seinen Fuß und krallte sich durch den dünnen Stoff seiner Hose in sein Bein. Tiano schrie auf. Er klammerte sich an die Strickleiter, trat mit dem freien Fuß nach unten, traf, das Tier jaulte kurz. Dann grollte es und packte ihn fester. Zog. Tiano sog scharf die Luft ein, als seine Sehnen und Muskeln sich immer mehr spannten. Der Zug an seinem Knie schmerzte entsetzlich. Tränen stiegen Tiano in die Augen, er fluchte und trat wie besessen nach unten. Etwas Warmes rann an seinem Bein hinab, da, wo die Klauen seine dünne Leinenhose durchbohrten. Eine zweite Klaue krallte nach ihm, sie krallte in seine Hüfte und rutschte ab. Tiano schrie wieder. Schweiß machte seine Finger glitschig. Immer wieder griff er nach, klammerte sich an die Leiter, er fluchte und schrie, er trat – und verlor den Halt, rutschte an der Leiter ab und krachte mit dem Rücken voran auf den Boden. Vor seinen Augen tanzten grelle Lichtpunkte. Er spürte, wie die die Krallen seine Kleidung und seine Haut zerfetzten. Unter den blinden Augen der Kreatur gähnte ein zahngespikter Rachen. Tiano versuchte verzweifelt, sich loszureißen, aber die Zähne kamen immer näher. Das Ding war viel zu stark für ihn. Schon waren die faulenden, halb abgebrochenen Zähne so nahe, dass der Gestank ihn würgen ließ. Noch einmal bäumte er sich verzweifelt auf, schlug seine Fäuste in das drahtige Fell der Bestie, trat und wand sich. Dann schloss der Rachen sich über seiner Schulter. Aus den tanzenden Lichtern wurde vor seinen Augen von einem Moment zum anderen Dunkelheit. Das letzte, das er sah, war eine Bewegung zwischen den Blättern und etwas, das zwischen ihnen hervor schoss.
Dass das Wesen aufheulte, ihn losließ und wegrannte, merkte er schon nicht mehr.
Zersa zitterte am ganzen Körper. Einen Moment blieb sie am Boden hocken, den gespannten Bogen in der Faust, einen noch nicht abgeschossenen Pfeil auf der Sehne. Das Ding war geflohen, sie konnte noch immer seine Schritte hören, die durchs Unterholz krachten, sein raues Keuchen. War es auf zwei Beinen geflohen oder auf vier? Was war es überhaupt gewesen, das diesen Menschen angefallen hatte? Zersa atmete tief durch, dann nahm sie langsam den Pfeil von der Sehne und steckte ihn in ihren Köcher zurück. Vorsichtig erhob sie sich, entspannte den Bogen und schob auch ihn in den Köcher. Geduckt bewegte sie sich auf den Menschen zu, der reglos vor ihr im Moos lag. Sie konnte das Blut riechen, das aus den Wunden an seinem Bein und seiner Brust sickerte. Ein leises Fauchen stieg in ihrer Kehle auf.
Er würde sterben, wenn sie ihn so liegen ließ, wenn nicht am Blutverlust, dann am Wundfieber. Aber er war ein Mensch. Einer von denen, die die Veränderungen in die Dörfer der Uruni gebracht hatten. Einer von denen, die den Glauben verbreitet hatten, die Ata seien von Dämonen besessen. Zersa hockte sich nieder und wiegte ihren Oberkörper langsam vor und zurück. Starb er, dann war ein Mensch weniger in ihrem Wald. Ließ sie ihn sterben, dann handelte sie gegen den Willen der Waldmutter, die ihr das Wissen um heilende Kräuter und Früchte gegeben hatte.
Ich bin Heilerin. Ich darf ihn nicht töten. Und nichts tun bedeutet, ihn zu töten. Er kann ohne Hilfe nicht leben.
Sie schüttelte sich, dann kroch sie entschlossen näher.
Der Mann war größer als sie, aber schlanker und zierlicher als die meisten Menschen, denen sie bisher begegnet war. Auch trug er keine dieser schimmernden Panzer aus Metall und Kettengliedern, keinen Überwurf aus buntem Stoff mit Stammeszeichen oder Symbolen der Menschengötter. Das, was er noch an Kleidern am Leib hatte, war aus einfachem Stoff in gedeckten Farben. Eine schlichte Hose und Hemd, darüber eine zerrissene weiche Lederweste, die ihn kaum geschützt hatte. An den Füßen trug er abgetragene Stiefel aus festem Leder. Zersa betrachtete ihn kurz, dann fasste sie seine Schulter und zog. Er kam halb zu sich, ächzte, als sie ihn berührte, wimmerte, als sie ihn herumrollte. Ein Blick aus hellen Augen traf sie, eine seltsame Mischung aus dem Blau des Himmels und dem Grün frischer junger Blätter. Sein Blick war verschleiert. Er wollte die Hand heben, schaffte es aber nicht. Er wollte sprechen, aber aus seinem Mund drang nur ein leises Stöhnen, dann rollten seine Augen in den Höhlen, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Zersa nickte zufrieden. Es war gut, dass er nicht ganz zu sich gekommen war, die Wunden mussten schmerzen wie ein Waldbrand.
Zersa ließ ihre Umhängetasche von der Schulter gleiten und holte ihren Wassersack und ihre Kräutertasche hervor, die sie immer mitnahm, wenn sie allein unterwegs war. Zu leicht konnte man sich in diesen Wäldern verletzen – oder verletzt werden. Jeder Uruni wusste das. Zersa schluckte, als sie an die alten Sagen dachte, in denen die Ata die Lehrerin der Kinder war. Die, die zeigte, wie man mit dem Wald lebte. Bis der Neid derer erwachte, die nicht Ata waren. Und mit ihm das Misstrauen.
Dann waren die Menschen gekommen.
Sie biss die Zähne zusammen und schälte den Menschenmann aus den Resten seiner Kleider. Die Wunden waren tief, Bisse und Kratzer. Gelber Schleim hing an den Wundrändern. Sie spülte ihn mit Wasser fort, dann säuberte sie die Wunden mit dem vergorenen Saft der Feuerblume. Der Mann zuckte leicht, trotz seiner Bewusstlosigkeit musste er spüren, wie der Saft brannte. Fast bedauerte Zersa ihn. Er sah noch so jung aus. Seine Haut war blass, sein Haar rabenschwarz. Sie riss den Blick von seinem blassen, schweißüberströmten Gesicht los und holte dünnen Faden aus Spinnenseide und eine zierliche Knochennadel aus ihrem Bündel. Geschickt nähte sie die tieferen Kratzer und die klaffenden Wunden an Bein und Schulter, dann rieb sie alles mit Heilsalbe ein. Das Rezept stammte von ihren Ahnen und war von der Mutter an die Tochter weitergegeben worden. Alle Frauen in Zersas Familie waren Heilerinnen gewesen. Ihr Clan hatte sie geschätzt. Bis ...
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