„Du hast geschossen.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, und die Uruni-Frau nickte wieder.
„Ist es tot?“
Jetzt schüttelte sie den Kopf. „Weg. Ich habe gesucht, aber ich habe es nicht gefunden. Es hat eine Spur hinterlassen. Ich habe sein Blut gesehen. Und den Pfeil. Es hat ihn herausgezogen und ist dann weitergelaufen. Ich habe es verloren und bin zurückgekommen.“
„Weißt du, was es ist?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ein großes Tier, das große Wunden macht. Ich habe nur seinen Schatten gesehen und geschossen. Dann ist es von dir fortgelaufen und ich habe mich um deine Wunden gekümmert.“
Tiano zog eine Augenbraue hoch. Sie klang wütend, als sie sprach. So, als hätte sie lieber gleich die Verfolgung des Wesens aufgenommen, statt sich zuerst mit ihm abzugeben.
„Danke, dass du mir geholfen hast“, wiederholte er. „Mein Name ist Tiano. Hast du auch einen Namen?“
Sie schnaubte abfällig, und Tiano wusste, dass er etwas Falsches gesagt hatte. Natürlich hatte sie einen Namen. Sie war kein Tier. Sie war eben nur kein Mensch. Sie war anders, sie lebte anders, sie hielt andere Dinge als er für wichtig. Sie war eine Wilde. Aber sie war nicht dumm.
„Sagst du ihn mir?“
„Zersa.“
Es klang wie ein Fauchen, ein Zischen und ein Singen zugleich. Zersa.
„Tiano“, wiederholte sie seinen Namen. Er lächelte wieder und nickte.
Zersa sah ihn forschend an. Sie nahm den Pfeil von der Sehne und entspannte den Bogen, gab aber ihre leicht angespannte Haltung noch nicht auf. Trotzdem fühlte Tiano sich wohler, als kein Pfeil mehr auf ihn gerichtet war.
„Tiano. Du bist ein Mensch. Menschen kommen in die Wälder, um mit Uruni zusammen zu leben. Um mit Uruni zu handeln, zu tauschen. Menschen kommen immer zusammen mit anderen Menschen, aber du bist allein. Warum?“ Ihre Pupillen verengten sich leicht. Tiano spürte ihren Blick beinahe körperlich. Ein Kribbeln rann über seinen Rücken.
„Ich ziehe allein“, sagte er.
„Warum? Menschen wissen, dass der Wald gefährlich ist. Manche Menschen haben Angst vor Uruni. Manche haben Angst vor den Tieren, auch wenn sie sie jagen. Menschen sind wie Herdentiere. Sie ziehen nicht allein. Ich sah nie Menschen alleine ziehen.“
„Dann bin ich wohl der Erste. Ich mag andere Menschen nicht besonders, und andere Menschen mögen mich nicht.“
Sie hob eine Augenbraue – diese Geste schien sein Volk und ihres zu verbinden. Es ließ sie sehr menschlich wirken, auch wenn ihre spitzen Ohren zuckten und sich bewegten wie die einer Katze. Sie schnaubte leise, dann nickte sie, als würde sie sich erst einmal damit zufriedenstellen.
„Leg dich hin. Ich muss deine Wunden ansehen. Du brauchst neue Verbände. Sonst kommt das Fieber doch noch.“
„Ich habe nichts dagegen.“ Tiano schlug die Decke zurück. Zersa kam näher heran. Sie bewegte sich geschmeidig, katzenhaft, unglaublich leise. Sie legte ein Bündel neben ihm ab und begann, die Schnüre zu lösen, die die Blätter auf seiner Brust hielten. Tiano sog überrascht die Luft ein, als Zersa sie abnahm. Ihre Hände waren so sanft, dass er kaum spürte, dass sie ihn berührte. Unter den Blättern und den Resten der Salbe konnte er sehen, dass einige der Kratzer zugenäht waren. Er sah die Stiche, aber der Faden war beinahe unsichtbar. Die Wunden sahen sauber aus, nur ein wenig gerötet.
„Tut es weh?“ Zersa wischte die Salbenreste ab, dann drückte sie leicht auf die Nähte.
Tiano keuchte und zuckte zusammen. „Kaum ...“
Sie nickte. „Also ja. Männer. Überall gleich.“
Er musste grinsen.
„Frauen anscheinend auch“, murmelte er und zuckte zusammen, als Zersa noch einmal auf den Kratzer drückte. „Au!“
Zersa schwieg, aber ihre Ohren zuckten. Fasziniert betrachtete er diese Ohren. Sie sahen aus wie Menschen-ohren, nur dass sie am oberen Ende ein wenig spitz zuliefen. Das und die kräftigen, leicht gebogenen Finger- und Fußnägel und die Hautfarbe waren das einzige, das an eine Katze erinnerte. Tatsächlich schimmerten in dem dunklen Schwarzbraun ihrer Haut noch dunklere Flecken, wie die kaum sichtbare Zeichnung eines schwarzen Panthers. Tiano hatte einmal ein solches Tier bei einem Schausteller in der Stadt gesehen, er hatte das Tier als Junges gefunden und gezähmt und zeigte es nun auf Jahrmärkten. Katzenhaft war sie, diese zierliche Waldfrau, aber keine Katze. Ihr Körper mit den schlanken Gliedern, den leicht gerundeten Hüften und den kleinen, festen Brüsten, die sich unter dem Schulterkragen abzeichneten, wirkte sehr menschlich.
Sie war schön.
Und, das musste Tiano feststellen, als Zersa sich über ihn beugte und frische Salbe auf seine Wunden strich, sie roch gut. Aufregend. Fremd. Und doch vertraut. Es dauerte eine Weile, bis ihm klar wurde, dass es der vertraute Geruch des Waldes war, den er an ihr roch.
Zum ersten Mal wurde Tiano klar, wie lange er tatsächlich schon allein durch die Wälder zog. Er schloss die Augen, während Zersa seine Wunden säuberte und frische Verbände anlegte. Als sie sich an seinem Bein zu schaffen machte, zuckte er mehr als nur einmal zusammen – der Biss war tief, anscheinend hatte er sich doch ein wenig entzündet. Zersa öffnete die Naht, reinigte die Wunde und nähte sie dann neu. Tiano konnte nichts tun, als die Zähne zusammenzubeißen. Es schmerzte, und der Pflanzensaft, den sie zum Säubern benutzte, roch nicht nur scharf, er brannte auch wie Feuer. Schließlich lehnte Zersa sich zurück, betrachtete ihr Werk und nickte.
„So muss es gehen. Es wird heilen, du wirst das Bein nicht verlieren, aber es wird noch eine Weile wehtun. Du wirst nicht weit laufen können, aber ich glaube, du bist sicher hier. Wenn es wiederkommt ...“
Sie tätschelte ihren Bogen. Tiano zog eine Augenbraue hoch.
„Du willst mich bewachen?“
Zersa zuckte die Schultern, wieder eine sehr menschliche Geste.
„Ich suche das Tier. Wenn es dich sucht, dann kommt es wieder. Wenn ich das Tier finde und töte, dann ...“ Sie sprach nicht weiter. Eine Weile schwieg sie, dann sah sie Tiano an.
„War es letzte Nacht das erste Mal, dass es dich angegriffen hat?“
Tiano zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht, ob es mir schon lange folgt, aber es war vorher wohl schon einmal hier. Du hast sicher den Baum gesehen. Da habe ich eigentlich meinen Schlafplatz. Das Ding hat die ganze Rinde abgekratzt. Was ist das für ein Vieh?“
Zersa legte den Kopf schief. „Ich weiß es nicht“, sagte sie schließlich. „Nicht sicher. Ich habe eine Ahnung, aber ich muss ...“ Sie hielt inne und sah Tiano an.
„Du sagst, du ziehst durch die Wälder. Schon lange?“
„Ich war bei denen, die in der Nähe deines Dorfes leben. Vielleicht habe ich dich sogar einmal gesehen, ich weiß es nicht. Ich geriet mit den anderen Menschen in Streit und ziehe seitdem allein. Einige Monde schon.“
„Kennst du den Wald gut?“
„Ich habe Einiges gelernt. Aber wohl noch nicht genug.“
Zersa beugte sich leicht vor. Die Anspannung kehrte in ihre Haltung zurück.
„Hast du schon einmal etwas gefunden, was dir seltsam vorkam? Oder dich erschreckt hat?“
Tiano nickte. Allein schon der Gedanke an die abgetrennten, zerfetzten Gliedmaßen sorgte dafür, dass ihm beinahe schlecht wurde.
„Passiert es, dass ... deine Leute auf der Jagd von Tieren angegriffen und getötet werden?“
Zersas Ohren zuckten. „Wir sind vorsichtig. Wir sind gute Jäger. Wir kennen den Wald. Also: nein.“
„Aber in den letzten Tagen oder Wochen muss etwas passiert sein. Vielleicht war er oder sie nicht aus deinem Dorf. Aber ich habe etwas gefunden.“ Er tastete nach seinen Hosen, die Zersa ihm ausgezogen hatte, und wühlte in der Tasche nach dem Fußband. Er gab es ihr.
„Kennst du das?“
Читать дальше