Zersa nahm das Band. Ihre Finger zitterten, als sie es drehte und betrachtete, dann ließ sie es fallen, sprang auf, stürmte aus der Blätterhöhle, und Tiano konnte sich rasch entfernende Schritte und ein trockenes Würgen hören.
Es dauerte eine Weile, bis sie zurückkam. Ihre Pupillen waren geweitet. Ihre Wangen waren nass. Tiano spürte einen unangenehmen Stich in seinem Inneren. Sie musste dieses Band schon einmal gesehen haben.
„Woher? Woher hast du das?“ Ihre Stimme zitterte wie ihre Hände. Sie sah aus, als würde sie sich jeden Moment auf ihn stürzen. Tiano schluckte und hob abwehrend die Hände.
„Ich habe nichts damit zu tun, ich schwöre es bei ...“
„Schwöre nicht bei deinen Göttern. Ich habe genug von Alnea und Hiru.“ Katzenhaft kam sie auf allen vieren auf ihn zu, die Zähne gebleckt. „Woher hast du das Band?“ Sie fauchte. Es ging so schnell, dass Tiano kaum merkte, woher das Messer auf einmal kam, das sie ihm an die Kehle hielt, während sich ihre Fingernägel in seine Haut bohrten. Er hustete.
„Hör auf damit, du tust mir weh! Lass mich erklären!“
„Dann rede!“
„Ich habe es gefunden. Bei meinem Leben. Ich habe einen Fuß gefunden. Einen einzelnen abgetrennten Fuß. Das Band hing daran. Mehr fand ich nicht. Nur den Fuß. Ich habe das Band genommen und ihn vergraben. Das ist alles.“
Zersas Griff lockerte sich. Sie nahm das Messer weg.
„Pehaja“, flüsterte sie. „Das Band hat einem Mädchen aus meinem Dorf gehört. Sie ist vor einem halben Mond verschwunden. Jäger fanden in der Nähe des Dorfes ihren Körper. Ohne Beine. Überall war Blut.“
Sie schluckte. Tränen rannen über ihre Wangen.
„Sie war kurz davor, eine Frau zu werden, und so stolz. Sie wollte in den Wald gehen und Feuerblumen schneiden. Für ihr Haar. Für ihren Schmuck. Sie kam nie wieder. Ich habe gesehen, was von ihr übrig war. Und dann ...“ Sie schluckte. Als ihr Blick Tiano traf, sah er in ihren Augen nichts als Schmerz. Plötzlich sprang sie wieder auf und rannte aus der Blätterhöhle. Tiano wartete. Aber dieses Mal kam sie nicht zurück.
Pehajas Band.
Zersa vergrub das Gesicht in den Händen. Zusammengekauert hockte sie auf dem Baum in Tianos altem Lager und schluchzte. Er sollte sie nicht weinen sehen. Er würde Fragen stellen – und was sollte sie ihm dann sagen? Sie biss sich auf die Lippen, um nicht laut aufzuheulen. Das Ding, das Tiano angegriffen hatte ... das Ding, das sie verfolgt hatte, das sie aus bleichen, toten Augen angesehen hatte und dessen geistige Berührung sie beinahe den Verstand verlieren lassen hatte – war das der Mörder? War das der Schuldige? Zersa war gelaufen, wie sie noch nie in ihrem Leben gelaufen war, aber das Biest war zu schnell gewesen. Und dann war es irgendwann stehengeblieben. Und es hatte sie angesehen. Zersa schluchzte auf, sie rollte sich zu einem Ball zusammen und kniff die Augen zu. Aber die Erinnerungen waren da. Und sie blieben.
Sie rannte, das Biest war vor ihr. Ein Pfeil steckte in seinem Hinterteil, einer in seiner Seite, einer in seinem Rücken. Warum bei der Waldmutter wurde es nicht langsamer, warum fiel es nicht endlich hin? Zersas Lungen brannten. Sie spürte ihre Pfoten nicht mehr, sie wusste nicht, wie lange sie schon gerannt war. Fauchend hielt sie inne, als sie merkte, sie hatte das Biest verloren. Sie witterte. Sah sich um. Es war weg. Und dann spürte sie es. Eine Berührung, die keine war und doch da war. Das letzte Mal hatte sie eine solche Berührung gespürt, als ihre Mutter kurz vor ihrem Tod in der Geistessprache mit ihr geredet hatte. Aber damals war die Berührung sanft gewesen, liebevoll. Warm. Was sie jetzt spürte, war widerlich. Kalt und voller Hass. Wie ein schleimiger Wurm drang die geistige Berührung in sie ein. Zersa jaulte auf. Sie versuchte, ihre geistigen Schilde zu heben, aber der andere war stark. So stark, dass seine Berührung durch die winzigen Risse ihrer Schilde sickerte wie Regen, der im Boden versank. Widerlich. Es war so widerlich! Sie schrie, immer wieder. Und dann wandte sie sich um und rannte. Rannte, bis sie das Lager erreicht hatte, in dem sie den Menschen zurückgelassen hatte. Er schlief. Und sie rollte sich an seinen Füßen zusammen und zitterte wie ein Kind, das zu lange im Regen gewesen war. Sie fühlte sich nackt. Wie vergewaltigt.
Es hatte gedauert, bis sie den kalten Gedankenschleim aus ihrem Kopf herausbekommen hatte. Erst dann war sie in der Lage gewesen, die Panthergestalt abzustreifen, wieder eine Frau zu werden und Kragen und Gürtel wieder anzulegen. Und dann hatte Tiano sie abgelenkt. Solange, bis ... bis er ihr Pehajas Fußband gezeigt hatte. Sie würgte. Sie musste sich erinnern. Bilder aus dem Echo dieser Gedankenberührung ziehen, Bilder, die sie nicht sehen wollte. Sie weinte immer noch, als sie den Bildern erlaubte, aufzutauchen.
Bleiche Augen, die sich auf ein ockerfarbenes, gepardenfleckiges Gesicht richteten. Ein Mund, zu einem stummen Schrei geöffnet. Und dann Blut, so viel Blut. So viel Schmerz. So viel Lust am Töten. So viel Wahnsinn.
„Nein.“
Sie schluchzte das Wort in die Geräusche des Waldes hinein. „Nein, das kann nicht, das darf nicht sein. Bitte nicht. Waldmutter, warum?“
„Zersa?“
Etwas knirschte, klapperte, knirschte wieder. Ein Ächzen, dann hievte Tiano sich über die Kante der Plattform und blieb einen Moment keuchend liegen. Der Verband auf seiner Brust war blutbefleckt. Er richtete sich auf und sah sie an. Seine Himmelsaugen blickten verwirrt, fast ein wenig ängstlich. In der Hand hielt er Pehajas Band.
„Zersa, was ist passiert? Warum weinst du? Kanntest du ...?“ Er legte das Band auf den Boden.
Zersa zuckte zusammen. Wut stieg in ihr auf. „Du bist wahnsinnig. So werden deine Wunden nie heilen! Warum hast du das getan?“
„Ich habe mich gesorgt.“ Der Blick, den er ihr zuwarf, berührte etwas in ihr. „Du bist nicht wiedergekommen. Aber du warst traurig und aufgebracht. Also habe ich dich gesucht.“
„Du willst sterben“, knurrte Zersa. „Ja, ich habe sie gekannt. Die, der das Band gehörte. Sie war eine Stammesschwester. Ich bin entsetzt über die Art, wie sie sterben musste, wundert dich das?“
Tiano schüttelte den Kopf. „Nein. Aber da ist doch noch mehr. Du zitterst. Zersa, lass mich dir helfen. Du hast mir geholfen. Ich schulde dir etwas. Lass mich meine Schuld begleichen.“
„Schuld? Ich hätte dich sterben lassen können, aber das ist gegen das Gesetz der Waldmutter. Leben ist kostbar. Nur darum habe ich dir geholfen.“
Sie wollte ihn wegstoßen, aber sie tat es nicht, als er näher an sie heran kroch und eine Hand ausstreckte.
„Ich bin dir trotzdem dankbar. Und bei meinem Volk bedeutet das, irgendwann dem das Leben zu retten, der einem selbst das Leben gerettet hat. Das ist unser Gesetz von Ehre. Warum bist du allein im Wald unterwegs, Zersa? Ich weiß, wo dein Dorf ist, ich sagte es schon, ich war da, mit den Menschen. Falls du dich fragst, wer eure Schlingenfallen geplündert hat ... das bin ich gewesen. Ich war nahe bei deinem Dorf und ich weiß, dass eure Jäger und Kundschafter immer zu zweit ausziehen. Nie allein. Warum bist du allein?“
Zersa schluckte. Sie fühlte, wie die Ata sich in ihr regte und hervorbrechen wollte. Sie knurrte und grub die Fingernägel in die Handflächen.
Nicht jetzt. Er darf es nicht wissen.
„Du bist ein Mensch“, murmelte sie schließlich und spürte im gleichen Moment, wie lahm dieses Argument klang, „es geht dich nichts an. Nur meinen Stamm und mich. Ich werde ... ich werde eines Vergehens beschuldigt und suche hier draußen Beweise für meine Unschuld. Und ich glaube, ich habe sie gefunden. Durch dich. Ich sollte dir dankbar sein.“
„Bist du es nicht? Willst du nicht vielleicht doch versuchen, mir zu vertrauen?“ Er streckte eine Hand aus. Zersa zuckte zusammen, aber sie konnte nicht verhindern, dass er ihr kurz über das Haar strich. Sie schauderte.
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