Nachmittags schlich sich der kleine Wirbelwind trotz der „kalten Dusche“ noch mal aus der Wohnung, um wissbegierig nachzuschauen, wo der fremde Mann denn genau ganz oben wohnte. Erik lief also die Straße hinunter und lugte verstohlen auf das Klingelschild des mehrstöckigen Prachtbaus – dort las er ganz oben das Wort Billabong.
„So heißt der Mann also“, murmelte Erik vor sich hin.
Da er Neuigkeiten selten lange für sich behalten konnte, platzte es sofort aus ihm heraus, als er wieder zu Hause eingetroffen war. „Wisst ihr, wie er heißt?“, fragte er Mutter und Schwester.
„Wer?“, gaben die beiden einstimmig zurück.
„Na, der Mann von vorhin“, erläuterte der Junge und fuhr nach einer kurzen Pause fort: „Billabong!“
„Wie, er heißt Billabong? Das soll ein Name sein?“, spottete Isabel. „Da schaue ich gleich mal bei Google nach.“ Schon verschwand sie vorübergehend in ihrem Zimmer.
„Klingt irgendwie nach Ausland, aber so sah er mit seinen blonden Haaren und den blauen Augen gar nicht aus“, wunderte sich Stefanie.
„Billabong heißt in der Sprache der Aborigines Wasserloch, konnte ich herausfinden. Vielleicht stammt er aus Australien oder so“, überlegte Isabel.
„Mama, was ist ein Aborigine?“, wollte Erik wissen.
„Aborigines sind die Ureinwohner Australiens – ähnlich wie die Indianer Nordamerikas. Sie leben dicht an der Natur“, erklärte Stefanie.
Nachdenklich nahm Erik am Küchentisch Platz. „Herr Billabong, ein Australier und noch dazu ein Aborigine?“
Leicht amüsiert mutmaßte Isabel: „Vielleicht ist er ein Aborigine, der sich die Haare blondiert hat.“
„Jedenfalls hat der Mann ziemlich heftig nach frischem Heu oder Stall gerochen, das ist mir aufgefallen“, grübelte Erik laut vor sich hin.
„Sicher, der Mann wird ein Aborigine mit blond gefärbten Haaren sein, der mit seinem edlen Anzug draußen schläft und deshalb nach Heu riecht“, frotzelte Isabel.
„Vielleicht waren seine Vorfahren Aborigines. Dadurch blieb ihm der Name erhalten. Morgen werde ich für Herrn Billabong eine Schachtel Pralinen besorgen, die wir ihm zum Dank vorbeibringen und nun marsch, ab in eure Zimmer“, ordnete die Mutter an.
Am nächsten Tag standen Stefanie und Erik mit einem riesigen Kasten köstlichster Pralinen an der mächtigen Eingangstür der Villa und drückten vergeblich auf die Taste mit dem Namen Billabong. Es öffnete niemand.
Ein paar Wochen später, es musste in etwa Anfang Dezember sein, entdeckte Erik Herrn Billabong auf der anderen Straßenseite und grölte sofort: „Hallo, Herr Wasserloch!“
„Schatz, lass das sein, was soll das wieder?“, wies Stefanie den Siebenjährigen zurecht. „Guten Tag, Herr Billabong“, grüßte sie höflich, doch Herr Billabong reagierte nur mit einem etwas verhaltenen Lächeln.
Weihnachten nahte und Erik wünschte sich einen Besuch im Stadtzoo, da dieser Heiligabend vormittags noch geöffnet hatte. Dort angekommen geschah es im Australienhaus, das Erik zielsicher angesteuert hatte, dass die kleine Familie dem Weihnachtsmann begegnete, der an ein paar wenige Kinder Geschenke aus einem großen Jutesack verteilte.
Viele Besucher waren nicht mehr zugegen, als Erik, Isabel und Stefanie auf den Weihnachtsmann zutraten.
Da flüsterte Erik seiner Mutter zu: „Ich glaube, das ist Herr Billabong. Der Weihnachtsmann riecht genauso nach Heu wie er.“
„Ach, Erik, du musst nicht überall und in allem Herrn Billabong sehen, begreife das endlich“, gab Stefanie zu bedenken.
So kam, was kommen musste: Als der Weihnachtsmann einen Elefanten aus Schokolade, ein Büchlein über Kängurus und eine Familienfreikarte für einen Zoobesuch aus seinem Jutesack an den Jungen weiterreichte, prustete Erik los: „Du bist nicht der Weihnachtsmann – du bist Herr Wasserloch!“
„Bitte entschuldigen Sie, mein Sohn scheint eine blühende Fantasie zu besitzen. Vielen Dank und frohe Weihnachten“, warb Stefanie um Verständnis.
Da lüftete der Weihnachtsmann seine weißhaarige Perücke, als gerade keine anderen Besucher mehr anwesend waren. Tatsächlich kamen darunter die blonden Haare von Herrn Billabong zum Vorschein. „Ich heiße gar nicht Billabong“, enthüllte der Mann.
„Natürlich heißt du Billabong, und du schläfst bei den Kängurus, deswegen stinkst du auch nach Heu und kommst aus Australien wie die Aborigines“, posaunte Erik aus.
„Ihr Sohn ist ein aufgeweckter Bursche! Ich schlafe zwar nicht bei den Kängurus, aber ich füttere sie gelegentlich mit frischem Heu. Gestatten, mein Name ist Breitkauz, Albert Breitkauz, und ich bin hier der Zoodirektor. Heute wollte ich mir die Freude nicht nehmen lassen und schlüpfte selbst in das Weihnachtsmannkostüm, aber so ein Sohn wie Ihrer scheint zu helle für meine Maskerade zu sein“, schmunzelte der Direktor.
Mutter und Schwester waren ein wenig sprachlos wegen Eriks Entlarvung.
Herr Breitkauz äußerte schließlich die Vermutung: „Billabong, so lautet wohl das Fabrikat des Klingelblocks.“
Nun mussten alle herzhaft lachen. Weihnachten wurde diesmal ein ganz besonders.
Maren Rehder lebt in Kiel und studierte Kunst, Kunstgeschichte, Evangelische Theologie, Pädagogik und Soziologie. Schon als Kind dachte sie sich gerne Geschichten aus.
*
Vorige Woche war ich in einem großen Kaufhaus der Stadt. Du meine Güte, war da was los. Ein Gewühle und Gedränge. Die Menschen schoben sich durch die Abteilungen. Immer wenn ein Kunde etwas in einem Regal genauer ansehen wollte, musste die ganze Menschenmenge hinter ihm stehen bleiben. Und warm war es da. Also, in der Sauna kann es auch nicht heißer sein. Nur ist man da leicht oder besser gesagt gar nicht bekleidet. Dort aber rann mir das Wasser aus allen Poren, denn ich hatte über meinem Hemd noch einen Pullover und eine Winterjacke an.
Immer wieder hörte man eine Stimme aus dem Lautsprecher mit den Ansagen: „Nummer zwölf bitte zum Ausgang zwei.“ Oder: „Der kleine dunkelhaarige Matthias, vier Jahre alt, bekleidet mit einer dunklen Hose und einem blauen Anorak sucht seine Mutti, die er in der Spielwarenabteilung verloren hat. Liebe Mutti, bitte melden Sie sich an der Sammelkasse im dritten Stock.“
Und dann waren auch die Durchsagen zu hören: „Nummer vierundzwanzig bitte zu den Spielwaren.“ Oder: „Nummer vierundzwanzig zu den Gardinen.“ Oder: „Nummer vierundzwanzig zu den Fernsehern.“
„Eigenartig“, dachte ich mir. „Wer ist denn Nummer vierundzwanzig?“
Gregor und Leontine, meine Kinder, die ich mitgenommen hatte, meinten, dass Nummer vierundzwanzig nicht überall gleichzeitig sein könne. „Wer kann denn Nummer vierundzwanzig nur sein, dass er oder sie so wichtig ist, dass er überall gebraucht wird?“, fragten sie mich.
Ich erklärte ihnen, dass man im Kaufhaus nicht ausrufen konnte: „Die Putzfrau möchte bitte mit Eimer und Lappen in die Lebensmittelabteilung zum Getränkeregal kommen, weil dort einem Kunden eine Flasche zu Boden gefallen und zerschellt ist.“ Deswegen hätte man sich darauf geeinigt, dass einfach nur gerufen wurde: „Nummer zwölf bitte in die Lebensmittelabteilung.“ Nummer zwölf war nämlich die Putzfrau.
Aber warum nur andauernd die Nummer vierundzwanzig?
„Weißt du was?“, sagte Leontine. „Wenn das nächste Mal wieder die Nummer vierundzwanzig gerufen wird, gehen wir auch dahin, wohin die Nummer vierundzwanzig kommen soll.“
Gregor nickte stumm. Einerseits war er ebenso neugierig wie Leontine, andererseits aber war ihm etwas mulmig im Magen, wenn er dahin sollte, wohin die Nummer vierundzwanzig andauernd gerufen wurde.
„Vielleicht“, dachte er sich, „vielleicht ist es der Arzt, und immer wenn er gerufen wird, ist jemand umgefallen, weil ihm im Gewühle schlecht geworden ist. Oder jemand hat zwischendurch Hunger oder Durst bekommen, konnte aber nicht in seine Manteltasche greifen, um sich ein Brot, einen Keks oder ein Getränk herauszuholen, und nun ist er einfach umgekippt.“
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