Nachdem er einige Minuten am Straßenrand entlanggewatschelt war, fand er eine Ampel, an der er die große Straße überqueren konnte. Auf der anderen Seite angekommen, vernahm er ein Gurren. Es kam von oben. Neugierig legte er den Kopf in den Nacken.
„Was macht denn ein Zootier hier?“, gurrte eine Taube von einem Fenstersims.
„Ich möchte wissen, was Weihnachten ist.“
„Weihnachten?“, fragte die Taube erstaunt. Sie breitete ihre Flügel aus und glitt zu Pitsch auf den Boden. „Weihnachten ist großartig!“, rief sie und lief aufgeregt hin und her. „Überall laufen die Menschen entlang. Immer haben sie etwas zu essen in der Hand. Zu Weihnachten ist die ganze Stadt voller Krümel. Leckereien, soweit das Auge reicht.“ Sie pickte auf den leeren Boden. Dann hielt sie inne und sah Pitsch an. „Ich kann es kaum erwarten“, strahlte sie.
Pitsch verabschiedete sich von der aufgekratzten Taube und setzte seinen Weg fort. Er kam in den Stadtpark und trat auf der grünen Wiese fast in einen Igel. „He, Vorsicht!“, rief der empört. Sofort entschuldigte sich der Pinguin bei dem stacheligen Fremden. „Was machst du überhaupt hier? Ich habe noch nie ein Tier mit so großen, komischen Füßen gesehen. Sehen aus wie Entenfüße. Aber irgendwie anders. Wer bist du?“, fragte der Igel.
„Ich bin Pitsch und ich bin ein Pinguin. Wer bist du?“, gab er die Frage zurück.
„Igor Igel“, räusperte sich der Fremde.
„Kennst du Weihnachten, Igor?“
Der Igel nickte. „Aber ich kann dir nicht viel darüber erzählen. Ich bin gerade auf der Suche nach einem Schlafplatz. Es wird langsam zu kalt für mich. Deswegen muss ich in ein warmes Bett. Darin verschlafe ich Weihnachten jedes Jahr.“
„Macht dich das nicht traurig?“, fragte Pitsch.
„Manchmal. Aber das macht nichts. Ich feiere einfach mit meiner Familie, wenn wir alle wieder wach sind.“
„Die Familie“, dachte Pitsch, „sie gehört also auch zu Weihnachten.“
Während er so nachdachte, sprach ihn eine Ente an. „Hast du mein Küken gesehen?“
Pitsch zuckte mit den Flügeln. „Leider nicht.“
„Es ist weggelaufen“, erzählte die Ente. „Es hat sich in den Kopf gesetzt, Weihnachten zu feiern. Hätte ich doch nur mit ihm über Weihnachten gesprochen. Hätte ich ihm erzählt, dass das Wichtigste an Weihnachten ist, dass die Familie zusammen ist und schöne Tage miteinander verbringt“, schluchzte die Ente unter Tränen.
Pitsch überkam eine tiefe Traurigkeit. Ob es seiner Mutter in diesem Moment auch so ging wie der Entenmutter? Sie machte sich bestimmt Sorgen. Außerdem vermisste er seine Familie.
„Ich helfe dir beim Suchen“, beruhigte er die Ente.
Etwa eine Stunde liefen sie durch den Park, ehe sie das Entenküken fanden. Pitsch rechnete damit, dass die Mutter schimpfen würde. Sie nahm ihr Küken aber nur in den Arm und drückte es fest an sich.
„Danke, kleiner Pinguin“, flüsterte die Entenmutter.
Pitsch nickte nur. Er nickte, weil er genau wusste, was er jetzt tun musste. Entschlossen trat er den Rückweg in den Zoo an. Er durchquerte den Stadtpark, wartete an der Ampel, dass es Grün wurde, lief am Eulenkäfig vorbei und ignorierte die Rufe der Eule, bis er endlich wieder am Pinguingehege stand. Er sprang auf die Mauer und suchte den Weg zurück in das Gehege. Dann kuschelte er sich in das Bett seiner Eltern, die noch tief und fest schliefen.
Weihnachten war wahrscheinlich das schönste Fest der Welt. Essen, Geschenke und vieles mehr. Aber ohne die Familie wäre es nicht Weihnachten.
Das hatte er gelernt. Er schätzte sich glücklich, seine Familie jeden Tag bei sich zu haben.
Mit diesen Gedanken schlief er ein. Unwissend, dass unter dem Bett seiner Eltern eine kleine Überraschung für ihn verstaut lag.
Oliver Bruskolini, geboren 1993 in Essen, wohnhaft in Essen, NRW. Er studiert an der Universität Duisburg-Essen Lehramt mit den Fächern Deutsch und Sozialwissenschaften. Veröffentlichung verschiedener Kurzgeschichten in Anthologien.
*
Die Sehnsucht nach der Weihnacht
Die Sehnsucht nach dir ist groß.
So groß ist sie, dass ich die Stunden zähle.
Ich erwarte dich jedes Jahr und freue mich sehr.
Wenn sich die Bäume in ihren Tiefschlaf verabschieden
und das Laub verschwunden ist.
Dann bist du endlich da
und mein Warten auf dich hat ein Ende.
In meinen Gedanken trage ich dich das ganze Jahr bei mir.
Doch in meinem Herzen bist du immer bei mir.
Ich freue mich auf die Weihnachtszeit.
Der weiße Glanz auf den Straßen sieht sehr schön aus
und jedes Jahr erlebe ich die Weihnacht aufs Neue.
Es ist wie ein Märchen, das jedes Jahr ins Land zieht.
Verzaubert unsere Straßen
und zaubert uns ein Lachen ins Gesicht.
Die Sehnsucht hat ein Ende
– denn es ist endlich wieder Weihnachten.
Jürgen Heider wurde 1989 in Karaganda (Kasachstan) geboren und lebt heute mit seiner Familie in Freiburg im Breisgau. Da er von Geburt an eine Körperbehinderung hat, besuchte er die Staatliche Esther-Weber-Schule in Emmendingen-Wasser für körperbehinderte Kinder und Jugendliche, die er 2009 abschloss. Seitdem arbeitet er in der Werkstatt für Behinderte in Umkirch. Das Schreiben entdeckte Jürgen Heider mit 15 Jahren für sich und hat seitdem mehrere Geschichten in Anthologien veröffentlicht.
*
„Halt, junger Mann!“ Erik spürte, wie sich von hinten eine Hand fest in seine Schulter krallte und ihn zurückhielt. „Stehen geblieben!“, donnerte die fremde Männerstimme.
Schon brauste ein Fahrzeug hupend mit tausend Sachen an dem seltsamen Paar vorbei und verspritzte graubraunes Regenwasser.
„Das ist ja gerade noch mal gut gegangen“, atmete der Mann erleichtert auf.
„Erik, um Himmels willen, Erik, was machst du denn da?“ Von hinten hetzte Eriks alleinerziehende Mutter Stefanie herbei, die mit Einkaufstaschen schwer beladen war. „Wie oft habe ich dir schon gesagt, du möchtest an der Straße auf mich warten“, schimpfte sie keuchend und gleichzeitig besorgt. „Bevor du eine Straße überquerst, musst du immer stoppen, schaue erst nach links, dann nach rechts, und wenn kein Auto kommt, dann kannst du gehen“, erklärte sie nun mit etwas ruhigerer Stimme. „Wie kann ich Ihnen nur danken?“, fragte sie den Herrn, der Erik vor Schlimmerem bewahrt hatte.
„Ach, keine Ursache“, erwiderte der Mann. „Das ist doch selbstverständlich“, fügte er hinzu.
„Dass wir Ihnen solche Unannehmlichkeiten bereiten, tut mir sehr leid! Ihre Schuhe, Ihre Hose und Ihr Mantel sind ja von dem schmutzigen Pfützenwasser total verunreinigt. Darf ich Sie wenigstens zu einem Kaffee einladen?“, fragte Stefanie dankbar mit schuldbewusster Miene.
„Nein, vielen Dank, aber das ist wirklich nicht nötig.“ Der Mann zog lächelnd und wortlos den Hut, bevor er die Straßenseite wechselte.
„Gerne würde ich Ihnen eine kleine Aufmerksamkeit zukommen lassen, wo kann ich Sie erreichen?“, rief Eriks Mutter dem Fremden nach.
Als dieser den anderen Gehsteig erreichte, drehte er sich noch einmal kurz um und rief: „Ich wohne dahinten in der großen Villa, ganz oben.“ Dann setzte der Mann seinen Weg eilig fort. Offenbar wohnte der Unbekannte in dem vornehmsten Haus der Straße, in der auch Eriks Mutter eine Altbauwohnung gemietet hatte. „Das tust du nie wieder, Erik, versprich mir das bitte“, flehte Stefanie mit autoritärem Unterton.
„Nein, das mache ich nie wieder“, antwortete der Junge verschämt.
„So, und jetzt rasch nach Hause!“ Als die beiden die Wohnungstür öffneten, erwartete sie gespannt Isabel, Eriks ältere Schwester, die neugierig den Grund für seine schmutzigen Sachen erfahren wollte. Ein wenig Schadenfreude konnte die Fünfzehnjährige nicht unterdrücken, als sie hörte, was ihrem Bruder soeben widerfahren war, wenngleich auch die Freude darüber, dass nichts Ernsteres geschehen war, überwog.
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