»Ehrlich?«
Sie lächelt. »Ja, ehrlich. Also?«
»Danke, das ist sehr nett, aber eigentlich nicht nötig.«
»Ich möchte es aber gern. Also, ich melde mich dann bei dir.«
Nachdem ich ihr noch meine Nummer aufgeschrieben und den Laden verlassen habe, denke ich auf dem Nachhauseweg darüber nach, wie nett Sally doch ist – ganz im Gegensatz zu ihrem Neffen. Und doch schlägt mein Herz bei dem Gedanken an ihn ein bisschen schneller.
»Ich kann es noch gar nicht glauben, dass wir endlich hier sind!«, ruft Jill, als wir das Closer betreten. Eben haben wir noch unsere Jacken abgegeben, da sind wir schon mitten im Geschehen. Die warme Luft vermischt mit Ed Sheerans Song Shape of you , der Bass vibriert. Die Leute stehen schon dicht an dicht, und wir schieben uns an ihnen vorbei.
Das Blumenkleid, das ich trage, steht mir gut. Jill hat es mir mitgebracht, und ich fühle mich darin ziemlich wohl.
»Schon ganz schön voll hier«, stellt Jill fest. »Wird gar nicht so leicht, Nathan zu finden.«
Sie zwinkert mir zu. »Ich würde vorschlagen, wir trinken erst was.« Ohne eine Antwort abzuwarten, greift sie nach meiner Hand, und wir bahnen uns einen Weg zur Bar. »Und, was willst du?« Sie greift nach der Getränkekarte. »Cola? Oder schau mal, was da steht: London Love . Klingt auch gut. Und passt zu diesem Abend.« Sie tippt auf das bunte Papier und grinst mich an. Ich rolle mit den Augen.
»Von ›Love‹ merke ich nichts«, sie lacht. »Komm schon. Ich meine, gegen einen Cocktail ist nichts einzuwenden, oder?«
Jill hat recht, und so lasse ich mich dazu überreden. Es dauert nicht lange, bis der Typ hinter der Bar zwei leuchtend pinkfarbene Cocktails vor uns abstellt. Ganz nach Jills Geschmack.
Jill greift nach ihrem Glas, hebt es hoch und sieht mir in die Augen. »Auf uns und einen schönen, aufregenden Abend.«
Schon im nächsten Moment klirren unsere Gläser aneinander.
»Es war doch gut, herzukommen, oder? Ich meine, die Stimmung ist super«, sagt Jill und nimmt einen ersten Schluck. Ihre Augen weiten sich. »Ich meine, okay, der schmeckt mal süß, aber lecker. Aber etwas fehlt noch zu unserem Glück. Die Jungs.« Kichernd sieht sie sich um. Sicher sucht sie Thomas, und wenn ich ehrlich sein soll, habe ich auch schon nach Nathan und vor allem nach Louis Ausschau gehalten. Ob er vielleicht auch hier ist? Dabei sollte es mir doch egal sein.
Aber bisher habe ich noch keinen der beiden entdeckt, dafür aber ein paar andere Jungs, die am Rand der Tanzfläche stehen und herumgrölen, darunter auch Thomas und Charly.
Ich zupfe an Jills Oberteil. »Du, dahinten steht Thomas mit den anderen Jungs.«
Als sie ihn entdeckt, beginnen ihre Augen zu funkeln. »Gehen wir hin?«
»Meinetwegen.«
Jemand geht an uns vorbei, und kurz habe ich das Gefühl, dass es Louis ist, aber ich habe mich getäuscht. Der Typ sieht ihm nur ähnlich, mehr nicht. Verdammt, Louis verhält sich abweisend und merkwürdig und ich denke dauernd an ihn! Was ist mit mir kaputt?
Jill mustert mich stirnrunzelnd. »Er geht dir nicht aus dem Kopf. Kann das sein?«
»Unsinn. Ich denke nicht an ihn.« Verlegen nehme ich einen Schluck von meinem Cocktail.
»Tust du doch.« Jill beginnt zu grinsen. »Ich habe übrigens etwas über ihn aufgeschnappt. Ganz aktuell.« Sie zieht mich ganz nah zu sich heran. »Du hast mir doch von dem Laden erzählt und Louis’ Tante Sally. Mary wollte sich ja ebenfalls schlaumachen. Also, es ist nichts Konkretes, aber so, wie ich es verstanden habe, sind er und seine Tante Sally aus Brighton hierhergezogen. Der Grund ist Sallys Grandpa, der den Laden nicht mehr führen kann. Es gab wohl irgendeinen schlimmen Vorfall, seit dem er so verwirrt ist. Sally hatte Louis wohl nach dem Tod seiner Mutter, also Sallys Schwester, und seines Vaters vor etwa zwei Jahren bei sich aufgenommen.«
Ich stocke. »Seine Eltern sind beide tot?«
»Ja, beide, Unfall oder so.«
Ich nehme noch einen Schluck. Das ist hart.
»Na ja, Louis ist wohl, als er ganz neu hier war, zufällig an Nathan geraten, und es gab eine unschöne Schlägerei, nach der Louis sogar zu einer kleinen Jugendstrafe verurteilt wurde. Anscheinend wurde das im Schnellverfahren durchgeboxt, keine Ahnung. Wahrscheinlich will Nathans Dad ihn deswegen nicht hier haben.«
Ich muss an Sallys Worte denken, dass Louis eigentlich ein gutes Herz hat. Er hat wohl echt was mitgemacht.
»Schon heftig, oder?«, drängt sich Jill in meine Gedanken. »Dass Louis deswegen sogar eine Strafe bekommen hat. Dann war es nicht nur eine harmlose Prügelei, das kannst du mir aber glauben.«
Ich zucke die Schultern. »Ich denke, das kann man nicht so einfach beurteilen. Wir kennen ja nur die eine Seite der Medaille. Und sagtest du nicht, Nathans Familie hat Einfluss?«
»Na ja, wobei Louis schon wie jemand wirkt, der eher auf Konflikte aus ist, oder?«
»Vielleicht hat er einfach nur viel Mist erlebt. Es ist schwer, wenn man jemanden verliert, den man liebt. Ich weiß, wovon ich rede, ich leide auch immer noch wegen Dad und er hat gleich beide Eltern verloren«, gebe ich zu bedenken.
»Ja, tut mir leid, Amy«, sagt sie bedrückt. »Ich weiß … Vielleicht hast du recht.« Ihr Blick wandert zu Thomas hinüber, der sich gerade mit Lilly unterhält. »Oh Mann, warum muss diese Ziege sich ausgerechnet heute an Thomas ranschmeißen? Und dann noch mit ihren Riesenbrüsten. Das war mein Plan – natürlich ohne die Brüste.« Sie grinst, und ich muss ebenfalls lachen. »Können wir sie nicht irgendwie da weglocken?«
Beschwichtigend streiche ich Jill über den Arm. »Die sucht sich schon noch ein neues Opfer. Du kennst doch Lilly. Und falls Thomas wirklich auf sie steht, dann ist er sowieso ein absoluter Idiot und hat es nicht anders verdient.«
»Du hast recht. Selber schuld.«
Ein Beat dröhnt durch den Raum, der sofort ins Ohr und in die Beine geht. Beschwingt von dem Cocktail will ich nur eins: tanzen. Und Jill scheint es auch so zu gehen. Sie sieht mich an und nimmt den letzten Schluck aus ihrem Glas. »Wahnsinn, was für ein Mix! Trink aus, und dann nichts wie los!«
Kaum habe auch ich mein Glas geleert, greift sie nach meiner Hand und zieht mich auf die Tanzfläche, wo jetzt Hip Hop gespielt wird. »Ich liebe diesen Song«, ruft Jill mir ins Ohr.
Jill lacht ausgelassen, während uns die Klänge der Musik umhüllen und die warme, mit Schweiß getränkte Luft uns einnimmt. Nun bin ich doch froh, hier zu sein. Ich hätte nicht gedacht, dass es mir so leichtfällt, abzuschalten und nur Spaß zu haben. Wie leicht sich alles gerade anfühlt. Einfach mal an nichts denken, nicht an die merkwürdigen Bilder in meinem Kopf, nicht an Louis, nicht an die Zeichnung in seinem Buch oder an was auch immer.
Noch immer lachend zwinkert Jill mir zu, während wir uns im Takt des Beats bewegen. Meine Augen wandern durch die Menge, gleiten über die Köpfe und Gesichter hinweg, und ich stocke. Denn eines der Gesichter kommt mir mehr als bekannt vor. Es gehört zu Louis, den ich am Rand der Tanzfläche an eine Wand gelehnt entdecke. Er trägt ein schwarzes Shirt, die Jeans sitzt leicht auf seinen Hüften. Als unsere Augen sich für die Dauer eines Wimpernschlags treffen, spüre ich ein heftiges Pochen, das sich durch meinen Körper schiebt und sich mit dem Bass der Musik vermischt. Schnell sehe ich wieder weg.
»Der DJ ist ja der Wahnsinn!«, ruft Jill neben mir.
Mein Blick wandert weiter zum DJ-Pult, das über der Tanzfläche platziert ist. Die Lichter blenden mich kurz, sodass sie mir erst die Sicht nehmen, doch dann erkenne ich den DJ und traue meinen Augen kaum. Denn da oben steht kein Geringerer als Nathan. Er trägt Kopfhörer, scheint völlig in der Musik versunken zu sein. Eine Haarsträhne fällt ihm in die Stirn.
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