Eine Weile sagt keine von uns etwas, weil wir mit unseren Leckereien beschäftigt sind.
»Verflucht gut«, seufzt Jill nur irgendwann und ich denke bei dem Wort verflucht an den alten Mann und das, was er gesagt hat. Ob er es merkt, dass er nicht mehr in der Lage ist, alles richtig zu unterscheiden, und auf andere etwas verrückt wirkt? Aber das muss ich gerade sagen: Wie wirke ich wohl auf Jill mit den Bildern, die ich sehe und auf Papier festhalte?
Es liegt mir auf der Zunge, aber ich beschieße, heute mal nichts darüber zu sagen. Dies sollte schließlich eine Ablenkung sein.
Als wir fertig sind, reden wir noch ein bisschen über die Schule, über das anstehende Wochenende und machen uns dann auf den Weg zur U-Bahn.
Jill hat eine Nachricht von ihrem Dad bekommen, dass sie noch auf einen Geburtstag gehen und sie nicht trödeln soll – und ich habe auch nichts dagegen, mich daheim etwas auszuruhen. Wir sind schon fast bei der U-Bahn, als wir an einem Laden vorbeikommen, der mir gleich ins Auge sticht. Bookbloom’s steht auf dem Schild über der Tür. Sofort fallen mir der alte Mann und seine Enkelin wieder ein. Ob die beiden gut nach Hause gekommen sind?
»Das müsste das Geschäft sein, von dem die Frau vorhin gesprochen hat, oder?«, frage ich.
Jill lässt ihre Augen ebenfalls über das Ladenschild wandern und nickt.
»Was meinst du? Wollen wir kurz reingehen?«
»Sorry, ich muss doch los. Aber geh du doch ruhig noch rein!«
»Okay, nur ein bisschen stöbern.«
Wir umarmen uns, bevor sich Jill in Richtung U-Bahn verabschiedet und ich die Ladentür öffne. Wie bei den meisten Läden in London erklingt ein helles Glöckchen über meinem Kopf, und mir schlägt ein Duft entgegen, den ich liebe. Der Duft nach Papier und alter Zeit. Es ist beinahe, als würde das Geschäft Tausende von Erinnerungen in sich tragen. Sofort fühle ich mich hier wohl – mehr als das.
Kurz sehe ich mich um, doch dann tritt schon die Frau von vorhin hinter die Ladentheke, Sally.
Sie lächelt mich an. »Oh, hallo, so schnell sieht man sich wieder.«
Ich nicke. »Ja. Ich dachte, ich schau mal rein.«
»Und deine Freundin? Hatte sie Angst vor meinem Grandpa?«
Sie verzieht das Gesicht und ich muss lachen. »Nein, sie hatte nur schon was vor.«
»Gut. Brauchst du was Bestimmtes oder willst du dich einfach mal umsehen?«
Ich winke ab. »Ich sehe mich nur ein bisschen um, wenn das recht ist. Habt ihr Zeichenstifte?«
»Klar, einfach dort nach hinten gehen, da sind sie irgendwo.« Sally deutet in Richtung einer Regalreihe, vor der einige Kartons stehen, und grinst.
»Irgendwo klingt gut.«
»Ja, es ist wie gesagt noch etwas chaotisch, aber am Ende des Ganges müsstest du welche finden. Kurz bevor der Bereich mit den alten Büchern beginnt, haben wir alles Mögliche an Kunstbedarf: Zeichenstifte, Leinwände, Pergament …«
»Super, dann schaue ich dort mal.«
»Mach das. Ich muss noch mal kurz in den Keller, ein paar Kartons verstauen. Nachdem Grandpa ausgebüxt ist, komme ich erst jetzt dazu, jetzt schläft er, es war echt aufregend für ihn«, sagt sie und verschwindet durch eine Tür, vor der ein roter Samtvorhang hängt.
Ich hingegen schlendere in den hinteren Teil des Ladens und muss zugeben, dass ich es hier sehr schön finde. Es ist beinahe wie eine große Fundgrube – zwar wirklich etwas chaotisch, wie Sally gesagt hat, und vieles steht herum, ohne dass dahinter ein System zu erkennen ist, trotzdem hat es seinen Charme. Mit etwas Ordnung könnte man daraus echt ein tolles Geschäft machen.
Vor dem Bereich mit den Leinwänden und Stiften bleibe ich stehen. Ich bin ganz überrascht von der großen Auswahl und mustere alles andächtig. Es gibt Stifte von Milon , einer guten Marke, von der ich allerdings nur träumen kann. Da ich mir nicht annähernd etwas davon leisten kann, genieße ich es, mich einfach nur umzusehen und all die Eindrücke in mich aufzunehmen.
Ich gehe einen Gang weiter, in dem sich auch ein paar gemütliche Sitzgelegenheiten befinden, und lasse meinen Blick über die vielen Regale mit Büchern wandern. Es gibt alte Bücher, so wie Sally gesagt hat, und auch neue, die auf einem Tisch ausgestellt sind. Wunderhübsche bunte Cover leuchten mir entgegen.
Schließlich finde ich eine alte Ausgabe von Oliver Twist . Die Seiten sind schon vergilbt, und ich lasse das dünne Papier durch meine Finger wandern. Eine Weile sehe ich das Buch noch an, doch dann entdecke ich ein anderes, das mich interessiert. Es hat einen schwarzen Ledereinband und wirkt irgendwie faszinierend und geheimnisvoll, was vielleicht an den verschlungenen goldenen Verzierungen auf dem Rand liegt.
Gerade will ich danach greifen, als ich ein kurzes, dumpfes Geräusch höre und gleich darauf auf dem Boden einen Stift entdecke, der in meine Richtung rollt. Ich bücke mich danach, sehe um die Ecke, weil ich wissen will, wo der Stift herkommt, und zucke heftig zusammen. Denn da sitzt Louis in einem der Sessel. Sofort beginnt es wieder, in meinem Magen zu kribbeln. Das Geräusch kam wohl von dem Buch, das jetzt am Boden liegt.
Das Bildniss des Dorian Gray – Oscar Wilde . Ich sehe zum Buch und wieder zu Louis. Was macht er denn hier?
Mit geschlossenen Augen sitzt er da, den Kopf schief gelegt, vor sich auf dem Schoß ein weiteres Buch. Die schwarzen Haare hängen ihm in die Stirn. Zuerst vermute ich, dass er schläft, aber dann sehe ich, dass er Kopfhörer im Ohr hat. Wobei ich dennoch nicht ausschließen kann, dass er eingeschlafen ist. Ich stehe wie festgewachsen da, und wieder schaffe ich es nicht, die Augen von ihm abzuwenden. Die Ärmel des hellen Hemdes, das zur Schuluniform gehört, hat er hochgekrempelt, und ich kann deutlich erkennen, wie schön seine Unterarme sind. Ich versuche krampfhaft, meine Augen abzuwenden, doch es gelingt mir nicht so ohne Weiteres.
Als ich einen Blick auf das Buch in seinem Schoß werfe, entdecke ich darin ein Bild, das Louis anscheinend unter einen Text gezeichnet hat und das ein Paar zeigt. Ich kann es nicht deutlich erkennen, aber das Motiv kommt mir irgendwie bekannt vor. Unsinn, ermahne ich mich, aber meine Neugier lässt mich noch etwas näher herangehen. Als Louis plötzlich tief einatmet, trete ich jedoch rasch wieder zurück.
Was mache ich da? Mich geht es schließlich nichts an, was er in das Buch geschrieben oder gezeichnet hat. Ich sollte mich lieber umdrehen und gehen, bevor er mich noch entdeckt. Aber ich kann nicht anders, ich beuge mich weiter vor, um noch mehr von dem Bild zu sehen, was mir schließlich auch gelingt. Es zeigt ein Paar auf einer Wiese umgeben von Rosen. Mein Puls schießt in die Höhe. Ich bin mir ganz sicher, dass es dem Bild, das ich schon mal gezeichnet habe, ähnelt, nur ist das Motiv aus einer anderen Perspektive dargestellt.
Während ich mich kopfschüttelnd frage, ob ich mir das wohl auch nur einbilde, gelingt es mir, einen weiteren Blick auf das Buch zu erhaschen. Louis hat darin wohl auch Briefe gesammelt und noch andere Bilder, die ich allerdings nicht erkennen kann. Kann es sein, dass es eine Art Tagebuch ist? Ein Buch zur Recherche? Oder ein Sammelbuch? Ich versuche, etwas von dem Text zu entziffern. Nicht bestätigt, muss geprüft werden , steht da.
Doch plötzlich geht alles ganz schnell. Louis bewegt sich, das Buch fällt zu Boden, ich stolpere in meiner ganzen Panik nach vorn und falle – natürlich – auf ihn drauf. Er öffnet die Augen, sein Blick trifft meinen. Es ist eine Sekunde, mehr nicht. Aber in genau dieser Sekunde sind wir uns plötzlich sehr nah. Als ich registriere, wie nah, will ich mich rasch aufrichten und greife an seinen Oberschenkel – leider etwas zu weit oben. Er verzieht das Gesicht, und mir schießt sofort die Röte auf die Wangen, nachdem mir klar wird, wo sich meine Hände gerade befinden.
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