1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 Tolle Logik, denke ich und lasse meinen Blick schweifen. Dabei fällt mir ein Mann auf, der mich auf merkwürdige Weise mustert. Erst bin ich mir nicht sicher, ob er mich wirklich ansieht, aber er tut es. Er trägt ein braunes Tweedjackett, die etwas spärlichen grauen Haare hat er zur Seite gekämmt. Auffallend an seinem Outfit ist die rote Fliege, wodurch es irgendwie schick wirkt. Immer wieder blickt er zu Boden, fast so, als hätte er etwas verloren, das er jetzt verzweifelt sucht. Dann sieht er wieder zu mir und winkt mir sogar zu.
Okay, das ist etwas gruselig.
Irgendwann kann ich ihn nicht mehr ignorieren, und nachdem wir sowieso so lange warten müssen, stupse ich Jill an. »Der Mann da drüben, ich glaube, der sucht was.«
Sie sieht zu ihm.
»Ja, kann sein, schau nicht hin. Man soll kleine Kinder und alte Leute nicht anstarren, sonst kriegt man sie nicht mehr los.«
Wieder sieht er zu mir und winkt.
»Ich weiß nicht. Er tut mir leid, er wirkt so allein. Weißt du was, ich komme gleich wieder, nur einen Moment.«
»Amy, nein …«
Doch ohne Jills weitere Antwort abzuwarten, löse ich mich aus der Schlange und gehe auf den Mann zu. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, frage ich, woraufhin er nickt und irgendetwas vor sich hin murmelt, das ich nicht verstehe.
»Ähm, was? Suchen Sie etwas, Sir?«, versuche ich es noch einmal, und jetzt sieht er zu mir auf. Er hat blaue Augen, die von faltiger Haut umgeben sind. Sie wirken ein bisschen trüb – zuerst. Denn als er mich sieht, weiten sie sich und beginnen, ein wenig zu strahlen.
»Ach, ich suche nach dem Anhänger. Er ist doch so wichtig, und ich habe versprochen, auf ihn aufzupassen, damit sie ihn nicht bekommen. Die Fänger wollen ihn, aber jetzt ist er weg, und ich suche schon die ganze Zeit danach. Kannst du ihn sehen? Er muss hier irgendwo sein.«
Ein Anhänger? Irritiert sehe ich jetzt ebenfalls zu Boden.
»Wie konnte ich ihn nur verlieren? Die Fänger dürfen ihn nicht kriegen. Der Fluch, jetzt wird er …«
»Welche Fänger? Und welcher Fluch?«, frage ich, doch er murmelt nur irgendetwas.
Ja, ich sollte gehen, aber es scheint ihm wichtig zu sein.
»Ein Anhänger also. Okay, ich helfe Ihnen. Wie sieht er denn aus?«
»Das weißt du doch, Caroline.« Er sieht mich an. »Er ist rund und blau, und darin befindet sich eine Blume.«
Caroline? Okay, ich weiß nicht, denke ich, während ich beginne, mit den Augen sorgfältig den Boden abzusuchen. Ich finde nichts außer einem verrosteten Geldstück, Kaugummi und einem Plastikdeckel.
Als ich den Kopf hebe, winkt Jill mir zu. Mittlerweile steht sie schon ziemlich weit vorn in der Schlange. Sie hat recht. Was in aller Welt mache ich denn da? Ich sollte zu ihr zurückgehen, bevor wir an die Reihe kommen.
Ich räuspere mich. »Tut mir leid, Sir, aber da ist nichts. Sind Sie denn ganz allein hier?«
»Ach, Caroline«, sagt er und seufzt kurz. Sein Blick ist ganz sanft geworden. »Dass du wieder da bist, das macht mich so froh. Ich wusste, sie kriegen euch nicht klein. Ihr wart dem Rätsel schon auf der Spur. Natürlich verrate ich nichts. Aber wo … wo ist denn Will? Er ist doch sonst immer bei dir. Auch wenn ihr nicht dürft, ich …«
Er wirkt zunehmend verwirrt, und ich bekomme ein merkwürdiges Gefühl bei dem Gedanken, ihn jetzt einfach hier allein stehen zu lassen. Wer weiß, wo er hingehört. Am Ende ist er aus dem Altenheim weggelaufen oder so. »Sir, wissen Sie, wo Sie wohnen?«, frage ich ihn deshalb.
Er lächelt und schüttelt ganz leicht den Kopf. »Dass du mich das fragst … Das weißt du doch.«
Das ist der Moment, in dem mir endgültig klar wird, dass ich ihn nicht allein lassen darf. »Wollen Sie vielleicht auch ein Eis?«
Er beginnt zu strahlen. »Ja, sehr gern. Aber warum siezt du mich eigentlich?«
Ohne weiter darauf einzugehen, beschließe ich, ihn mit zu Jill zu nehmen.
»Was ist denn los?«, raunt sie mir zu, als ich mich zusammen mit ihm wieder in die Schlange einreihe.
»Tut mir leid. Der Mann ist echt total verwirrt und ganz allein. Er nennt mich Caroline und sucht nach irgendeinem Anhänger. Wenn wir unser Eis gegessen haben, bringen wir ihn zur Polizei. Sicher wird er schon von jemandem vermisst«, flüstere ich und Jill will gerade was sagen, als auf einmal neben uns eine junge Frau auftaucht, die sichtlich außer Atem ist. Sie trägt Sneakers und eine kurze helle Hose, und ihre hellbraunen Locken kringeln sich ungebändigt um ihr Gesicht. »Gott sei Dank, Grandpa! Was machst du denn hier? Du sollst doch nicht einfach abhauen.« Vor Erschöpfung lässt sie den Oberkörper nach vorn fallen und stützt ihre Hände auf den Knien ab.
»Wieso denn abhauen? Ich bin mit Caroline unterwegs. Wir wollten nur ein Eis essen und dann weiter nach dem Anhänger suchen. Ich habe ihn doch verloren.«
Die Frau sieht zwischen Jill und mir hin und her, dabei atmet sie erneut tief durch und seufzt. Es sieht so aus, als würde sie nicht zum ersten Mal in dieser Situation stecken. »Das tut mir so leid, Mädels. Ich hoffe, er hat euch nicht allzu sehr belästigt.« Sie beugt sich ein wenig nach vorn und spricht nun merklich leiser weiter. »Er ist krank, wisst ihr. Und es war mein Fehler, ich hätte ihn nicht aus den Augen lassen dürfen. Aber es war so viel los heute. Ich war am Aufräumen und habe vergessen, die Tür abzuschließen, als ich die letzte Kiste hereingetragen hatte.« Sie winkt ab. »Jetzt quatsche ich euch auch noch voll.«
Ich lächle ihr zu. »Schon okay. Er hat uns nicht belästigt. Ich bin ja zu ihm hingegangen, ich dachte, er sucht etwas.«
»Ach, in letzter Zeit sucht er immer etwas. Oder er erzählt von Leuten, die nicht älter werden, und andere merkwürdige Geschichten. Ich denke, es liegt daran, dass er ein leidenschaftlicher Antiquitäten- und Buchhändler war. Bestimmt vermischt er deswegen immer Fiktion und Wirklichkeit. Neulich hat er eine Frau für Wendy aus Peter Pan gehalten. Und dieser Anhänger, er war schon regelrecht wütend deswegen. Ich habe keine Ahnung, was für einen Anhänger er meint. Aber ich will euch damit nicht nerven. Jetzt rede ich schon wieder so viel.« Sie streckt uns die Hand entgegen. »Ich bin übrigens Sally Bookbloom – vielleicht habt ihr Bookbloom’ s, den kleinen Laden am Ende der Straße mit den grünen Verzierungen an der Fassade, schon mal gesehen. Früher hieß er Barney’s nach meinem Grandpa.« Sie deutet auf den Mann. »Doch jetzt gehört er mir. Also, falls ihr mal auf der Suche nach außergewöhnlichen Geschenken, Büchern, Kunst- oder Zeichenutensilien seid, kommt gern vorbei. Etwas chaotisch ist es zwar bei uns noch, weil wir erst seit gut acht Wochen hier und noch am Herumräumen sind, aber das wird.«
Ich mag Sally mit ihrer offenen Art. Sie wirkt wirklich nett. »Das machen wir gern«, sage ich, »vielen Dank.«
»Komm, Grandpa, wir gehen, ja? Ich helfe dir zu Hause wieder beim Suchen. Ich glaube, ich habe ihn in einem der Regale gesehen.« Sie verabschiedet sich von uns, dann greift sie ihren Großvater am Ellbogen und zieht ihn mit sich, während er noch ein bisschen deswegen meckert, dass er jetzt kein Eis bekommt.
Mittlerweile sind wir endlich an der Reihe, und ich hoffe echt, dass sich das lange Warten gelohnt hat. Zumindest sieht alles ziemlich gut aus. Jill bestellt einen Becher Eis, und ich entscheide mich dann doch für einen gefüllten Muffin, der, laut der Bloggerin, der Knaller sein soll.
Auf einer Bank in der Nähe lassen wir uns schließlich nieder. Schon der erste Bissen schmeckt himmlisch.
»Mmh«, schwärmt Jill, während sie sich einen Löffel Karamelleis in den Mund schiebt. »Das ist richtig gut, oder? Also, KassiLondon hat echt nicht übertrieben mit ihren Tipps, das muss man sagen. Du musst ihr unbedingt auch folgen. Okay, die Wartezeit war jetzt nicht so toll, aber wenigstens hat es sich gelohnt.«
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