Dies also ist der erste Entwurf für den Anfang meines kleinen Buches. Manchmal kommt er mir jedoch zu ausführlich vor, weshalb ich eine kürzere, knappere Variante verfasst habe – in jedem Fall war ich mir nicht ganz sicher, wie ich den Beginn dieser Geschichte gestalten soll, die für mich mit dem Beginn der Geschichte des Dorfes zusammenfällt, welche sich ohne Rückgriff auf die Geschichte meiner Familie zumindest seit dem Eintreffen Abrahams in der Neuen Welt aber nicht erzählen lässt:
Der Erste aus unserer Familie verließ eines Tages Toledo und fuhr übers Meer, um in ein Land zu gelangen, wo das Leben weniger hart und weniger karg wäre, ein Land, in dem sein Name, Abraham Santángel, ihm nicht zum Nachteil gereichen sollte, und dort kam mehrere Jahre nach seiner Ankunft in Antioquia aus dem Bauch seiner Frau Betsabé Ismael zur Welt, sein fünftes Kind. Ismael zeugte mit Sara Isaías, der mit seiner Ehefrau Raquel Elías zeugte, welcher mit seiner Ehefrau Isabel einen Sohn mit Namen José Antonio bekam, der mit Mercedes Josué zeugte, welcher Miriam heiratete, die meinen Vater Jacobo zur Welt brachte, der mit meiner Mutter Ana meine beiden Schwestern Pilar und Eva und mich zeugte.
So weit die Abstammungslinie unseres Familiennamens Ángel, der zuvor Santángel lautete und zweifellos mit mir, der ich Antonio heiße, aussterben wird. Wem Gott keine Kinder schenkt, dem schenkt der Teufel Neffen und Nichten, heißt es. Und das stimmt, denn ich habe zwei Neffen mit Namen Gil und Bernal, doch den Namen Ángel tragen sie nur an zweiter Stelle. Was mir egal sein sollte, aber es ist mir nicht egal, auch wenn es fast das Einzige ist, was mir an meinen Neffen nicht gefällt. Es wird andere Ángels geben, aber von anderen Zweigen der Familie, weshalb es für mich so ist, als verschwände unser Name mit mir von dieser Welt. Dass ich so viel über meine Vorfahren spreche und mich ständig mit meinen Ursprüngen beschäftige, und das im Wissen, dass ich niemandes Vorfahr oder Ursprung sein werde, ist traurig. Und doch ist es so. Zum einen, weil ich keine Kinder habe, zum anderen, weil es für mich schwierig wäre, welche zu bekommen, da mir Männer gefallen und keine Frauen, und darüber hinaus, weil Jon von der Möglichkeit, Kinder zu adoptieren, nicht viel hält, und ich selbst, glaube ich, auch nicht. Die Namen meiner Vorfahren habe ich aus den Geburts-, Tauf- und Sterberegistern von Jericó zusammengetragen, unserem Dorf in Antioquia, und mithilfe anderer notarieller Aufzeichnungen konnte ich nachweisen, dass der erwähnte Isaías, unser erster Vorfahr in Jericó, der in El Retiro als Sohn von Ismael Ángel und Sara Cano und als Enkel von Abraham Santángel und Betsabé Correa, beide nicht unbedingt seit Urzeiten Christen, zur Welt gekommen war, dass dieser Isaías Ángel also am 2. Dezember 1886 die Urkunden unterzeichnete und registrieren ließ, in denen die Finca La Oculta zum Eigentum unserer Familie erklärt wird.
Toño interessiert sich für die alten Geschichten, die Herkunft der Familie, die Vorfahren, die Nachnamen. Mir liegt nicht das Geringste daran. Was mich betrifft, Pilar Ángel de Gil, reichen meine Erinnerungen gerade mal bis zu Großvater Josué und Großmutter Miriam. Josué Ángel und Miriam Mesa, und das war’s auch schon. Na gut, meinetwegen bis zu meiner Urgroßmutter, Merceditas, mit Nachnamen Mejía, oder Ditas – Mamá Ditas haben wir immer gesagt, oder vielmehr Mamaditas. An Mamaditas erinnere ich mich aber nur von ein paar Besuchen in dem großen Haus in Jericó, und weil ich ein gutes Gedächtnis habe, nicht so wie Toño, der sich an nichts erinnern kann und deshalb alles erfindet. Was er hört, glaubt er, und was er glaubt, schreibt er auf, und was er aufschreibt, darüber fängt er an nachzudenken, und dann erfindet er alles, was er nicht weiß, und glaubt es gleichzeitig – so ist Toño. Er ist so naiv und leichtgläubig wie die dümmsten Dorftrottel, und nirgendwo gibt es so viele Dorftrottel wie in Jericó, denn am Anfang waren alle, die dort gewohnt haben, Vettern oder Kusinen, und sie haben untereinander geheiratet. Das Einzige, was noch nicht vorgekommen ist, ist jemand mit einem Schweineschwanz, aber von allem Übrigen haben wir mehr als genug – Asthma, Epilepsie, Schizophrenie, Kurzsichtigkeit, Arthritis, Bluterkrankheit, was Sie wollen.
Wirklich, von den Großeltern aufwärts interessieren mich meine Vorfahren kein bisschen. Großvater Josué und Großmutter Miriam dagegen spielen eine große Rolle. Meine jüngere Tochter zum Beispiel, also Florencia, ähnelt Großmutter Miriam sehr, nicht nur weil sie auch so klein ist – meine Großmutter war gerade einmal eins fünfzig –, sondern vor allem im Charakter. Großvater Josué war mehr als dreißig Zentimeter größer als Großmutter Miriam, auf Fotos sieht das fast ein bisschen lächerlich aus, er, der Riese, neben einer solchen Zwergin. Aber diese Zwergin war nicht nur ein fröhlicher Mensch, sondern jemand, der sich immer im Griff hatte. Wenn es mit dem Großvater zum Streit kam, sagte sie bloß, ein wenig lauter als sonst, mit ruhiger Stimme einen einzigen Satz, der bei uns zu Hause zur festen Redewendung geworden ist, wenn man jemanden warnen oder ihm drohen will: »Wismut, Sulfonamid und Quecksilberiodid!« Worauf der Großvater sich jedes Mal sofort beruhigte und klein beigab. Im äußersten Fall erwiderte er: »Sie haben das Arsen vergessen, Doña Miriam, das Arsen.« Sie siezten sich. Auf unsere Frage, was der Satz bedeuten soll, haben sie immer gesagt, das sei ein Gift gewesen, das man in Jericó benutzt habe, um Blattschneiderameisen zu töten, und der Großvater habe einmal zur Großmutter gesagt, wenn sie weiter so herumjammere, werde er ihr eine ordentliche Prise davon in die Suppe tun. Vielleicht war es tatsächlich so. Jedenfalls brauchte Großmutter Miriam nur leise ihr Sprüchlein aufzusagen und schon senkte der Großvater den Blick und verstummte. Hinter seinem Rücken schnitt die Großmutter dafür Grimassen, streckte ihm die Zunge raus und machte ihm eine lange Nase, als wäre sie plötzlich wieder ein Schulmädchen. Und genau wie diese Großmutter ist auch Florencia, meine jüngere Tochter, ihr hat sich das vererbt, das merkt man ihr bis heute an.
Aber was die Mutter meiner Großmutter oder den Vater meines Großvaters angeht, die habe ich nie kennengelernt, und ich weiß nicht mal, wie sie ausgesehen haben, und auch nicht, wie sie geheißen haben, und so interessieren die mich auch kein bisschen. Und die, die noch früher gelebt haben, erst recht nicht, die sind längst mausetot und komplett vergessen. Vielleicht lebt von dem einen oder anderen ja noch was in mir fort, aber nachdem ich nicht weiß, was das sein könnte, ist es mir egal. Vielleicht ist es was Vererbtes, aber jetzt gehört es jedenfalls zu mir, und das reicht.
Antonio sagt zum Beispiel, im Innersten sind wir eigentlich Juden, und deshalb hieß eine der ersten Fincas von unserem ersten Vorfahren, der nach Jericó gekommen ist – Elías oder Isaías oder Matías oder Zacarías hieß der, irgendwas mit ías jedenfalls –, deshalb hieß diese Finca also La Judía. Das Haus gibt es angeblich noch, irgendwo oben am Río Frío, und die Wände sollen aus Edelholz sein. Und er sagt, wir sollen möglichst bald mal dorthin gehen und es uns ansehen, bevor es ganz verfällt. Aber ich glaube ihm nicht. Ich bin Katholikin, und zwar römisch-katholisch, wie meine Mutter und meine beiden Großmütter, und wenn wir früher mal Juden waren, spielt das keine Rolle mehr, weil wir schon vor Jahrhunderten zur wahren Religion übergetreten sind, und vor Gott sind sowieso alle gleich. Gott ist barmherzig, und wir kommen alle in den Himmel, auch die Bösen, das hat der Papst gesagt, und der versteht was davon, er hat erklärt, dass es die Hölle zwar gibt, aber sie ist leer, und deshalb kommen die Bösen auch nicht in die Hölle, sondern sie müssen bloß für ein paar Jahrhunderte ins Fegefeuer, das schon, damit sie für ihre Missetaten büßen und bereuen und den Schmerz, den sie anderen zugefügt haben, am eigenen Leib erfahren. Und das glaube ich, das habe ich immer schon geglaubt, und wenn die anderen es nicht glauben wollen, Pech für sie, denn umso länger müssen sie ins Fegefeuer.
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