1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 Toño nimmt alles, was mit der Religion zu tun hat, nicht besonders ernst. Früher schon, da war er sehr fromm, und ich glaube, als er vor fast dreißig Jahren nach New York gezogen ist, ist er am Anfang auch regelmäßig in die Kirche gegangen. Zu meiner Mutter hat er gesagt – damit sie sich keine Sorgen macht –, dass er in die Allerheiligen-Kirche geht, in Harlem, und dass die sehr schön ist, eine gotische Kirche, angeblich. Dann hat er sich mit Jon zusammengetan, und das war, was den Glauben angeht, wohl kein besonders guter Einfluss, Jon ist schließlich nicht mal katholisch, er stammt aus einer evangelischen Familie, wo sie beim Gottesdienst immer so viel singen und schreien und weinen und herumfuchteln. Davon, dass er sonntags in die Kirche geht, war bei Toño jedenfalls immer seltener die Rede, und meine Mutter hat auch nicht mehr danach gefragt. Obwohl ich glaube, dass er im Grunde immer noch gläubig ist, sagt Toño, dass ihm überhaupt nichts mehr sicher scheint und dass die Religionen kommen und gehen wie die Moden und dass es mehr tote als lebendige Religionen gibt und mehr tote als lebendige Götter, und dass später bestimmt noch mehr neue Religionen und Götter kommen und wieder verschwinden werden. Unglaublich! Die Religion ist doch keine Mode, und auch keine Spielerei, wie Horoskope oder Spiritismus. Die Religion ist etwas Ernstes und Wichtiges, ohne Religion haben wir keinen festen Boden unter den Füßen. Und Gott ist sowieso immer Derselbe, egal, welchen Namen sie ihm hier oder anderswo geben. Wenn es keine Religion und kein Leben nach dem Tod geben würde, wer würde dann die Guten belohnen und die Schlechten bestrafen? Nachdem die Belohnungen und Strafen auf der Erde nicht gerecht verteilt werden, muss es einfach ein anderes Leben geben, wo es nicht so verkehrt zugeht. Wenn es kein anderes Leben geben würde, wäre Gott verrückt, und ich glaube nicht, dass Gott verrückt ist. Aber selbst wenn er verrückt wäre, wäre mir das lieber, als wenn es gar keinen Gott gibt.
Alberto ist ein besserer Mensch als ich und sein Glaube ist stärker als meiner, und immer, wenn ich irgendwelche Zweifel habe, erklärt er mir alles und überzeugt mich. Er erinnert mich an all das Gute, was wir haben, und er zeigt mir, was für ein Glück es ist, dass wir hier wohnen dürfen, in La Oculta – für ihn ist das ein Stück vom Paradies. Seit fast zehn Jahren lebe ich jetzt hier schon mit ihm, meinem Ehemann, meiner einzigen Liebe, meinem ersten und einzigen Freund, meinem einzigen Mann. Er kann auf seine Art auch sehr still und schweigsam sein. Und ich küsse und beiße und probiere ihn immer noch, aber obwohl ich längst weiß, wie er schmeckt, verstehe ich immer noch nicht ganz, warum ich ihn so sehr liebe.
Einmal hab ich mit Rosa gestritten, der Köchin, das ist schon ziemlich lange her. Wir haben gestritten und ich hab irgendwann gefragt: »Wenn es Ihnen hier so schlecht gefällt, Rosa, warum gehen Sie dann nicht? Sie können jederzeit gehen.« Und sie hat gesagt: »Ach, Doña Pilar, wozu soll ich gehen, ein Grab ist so gut wie jedes andere.« Da habe ich lachen müssen, und später habe ich zu mir gesagt, dass es mit der Ehe genauso ist. Ob ein Mann nun gut ist oder schlecht, man muss mit dem zusammenbleiben, mit dem man zusammen ist, erst recht, wenn es ein guter Mann ist wie Alberto. Aber bei anderen ist das ganz anders, Eva zum Beispiel, meine jüngere Schwester, war schon dreimal verheiratet, und sie hat so viele verschiedene Freunde gehabt, da hab ich längst den Überblick verloren. Ihr letzter Freund war der Witwer Caicedo, der war zwar viel zu alt für sie – er ist achtzehn Jahre älter, man könnte meinen, er ist ihr Vater –, aber er war wenigstens anständig und großzügig. Und trotzdem, den hat sie auch verlassen, wie die anderen davor. Und wozu das Ganze? Damit sie mit dem nächsten auch nicht zufrieden ist und sich von dem auch wieder trennt. Ich weiß nicht, manchmal komme ich mir lächerlich vor und altmodisch, weil ich ganz anders als Eva bin. Mehrere Jahre war ihr die Finca vollkommen verleidet und sie wollte nicht mehr herkommen, sie hat gesagt, das würde sie nie wieder machen. »Nach La Oculta fahr ich nie mehr«, hat sie gesagt. Nie mehr, so ein Unsinn, sag niemals nie. Später ist sie doch wieder hergekommen, als wir alle wieder gekommen sind und Mama alles vorbereitet hat, damit wir hier wie früher zusammen Weihnachten feiern können, wie in der Zeit vor dem ganzen Elend. So ist das Leben, nach dem Sturm scheint die Sonne, wie es im Lied heißt, und die sonnigen Zeiten dauern länger als die Stürme, sage ich immer dazu. Wir sind also alle zurückgekehrt, und meine Mutter hat wieder ihre Tamales gemacht und Cremespeisen, Blätterteigecken und Schmalzbällchen, wie jedes Jahr. Und es gab auch wieder Bohneneintopf und Paella und Kartoffelsuppe und Chili-Hühnchen und Garnelensuppe und kalte Tomatencreme und Rinderbraten auf Cartageneser Art und Milchkaramell und Apfelkuchen und Guavenpaste mit Frischkäse und Milchmais mit Melassewürfeln. So geht es bei uns zu im Dezember: Wir singen und spielen und sitzen stundenlang beim Essen. Es gibt jede Menge Auseinandersetzungen, Streit, Tränen, Versöhnungen, denkwürdige Besäufnisse, mit richtigen Musikern, einem Trio aus dem Ort oder einer Gruppe aus Medellín. Novenen, Weihnachtslieder und Geschenke. Den Baum und die Krippe. Jetzt herrscht in der Gegend Frieden. Entführungen oder Raubüberfälle kommen kaum noch vor, gemordet wird nur noch aus Eifersucht und erpresst aus bloßer Geldgier. Jetzt können wir hier ruhig leben. Jetzt stirbt man hier nicht mehr durch Schüsse oder aus Trauer, sondern an Altersschwäche, und das ist die beste Art zu sterben, beziehungsweise die am wenigsten schlechte, die am ehesten hinnehmbare. Jetzt werden Eva und ich den Platz meiner Mutter einnehmen und alles für Weihnachten vorbereiten und dafür sorgen müssen, dass auch wirklich alle kommen, unsere Geschwister, Kinder, Enkel und Freunde. Hoffentlich bleibt es so ruhig, bis wir selbst sterben.
Eva war viel hübscher als ich und besser in der Schule und eine viel bessere Tänzerin. Sie hat deshalb auch immer gesagt, sie will Tänzerin und Psychologin werden. Vom vielen Tanzen hatte sie einen wunderschönen Körper, um von ihrem Gesicht gar nicht zu reden, ihr Gesicht war einfach perfekt, und so lächeln wie sie, das würde so manche Schönheitskönigin auch gern können. Sie hatte langes schwarzes Haar, wunderbar feine Gesichtszüge und die weißesten Zähne, die ich jemals gesehen habe. Außerdem war sie immer heiter und ausgelassen – über alles konnte sie lachen. Vielleicht lag es daran, dass sie so schön war, jedenfalls konnte sie von nichts genug bekommen, von allem wollte sie mehr und mehr. Und immer noch besser sollte es sein. Wir sind zusammen auf eine Klosterschule gegangen, ins Colegio de la Presentación, und sie hat ständig irgendwelche Auszeichnungen bekommen. Sie war immer die Klassenbeste, ohne Ausnahme. Ich gehörte bestenfalls zum Durchschnitt, abgesehen davon, dass ich in ihre Klasse ging, weil ich einmal durchgefallen war. Wenn Eva von der Schule nach Hause kam, war ihre dunkelblaue Uniform immer voller Medaillen – sie hatte die rote Medaille für Mathematik, die gelbe für Religion, die blaue für gutes Benehmen, die weiße für Spanisch, die grüne für Erdkunde, die gestreifte für Musik, die pinkfarbene für Geometrie, die orangefarbene für Fleiß, und mehr gab es nicht. Sie sah aus wie ein General. Ich dagegen hatte keine einzige Medaille, nicht mal eine klitzekleine. Ich weiß noch, dass ich sie einmal, als wir gerade aus dem Schulbus ausgestiegen waren, gezwungen habe, mir eine von ihren Medaillen abzugeben. Eine Freundin von mir hat mir geholfen und sie von hinten festgehalten, und ich hab ihr die schönste von allen Medaillen abgenommen, die dreifarbige, wie unsere Landesfahne. Die hab ich mir an die Brust geheftet und war total stolz auf mich, und als ich nach Hause kam, hat mein Vater ganz beglückt gefragt, wofür ich die Medaille bekommen habe, und weil ich selbst nicht wusste, wofür sie war, habe ich gesagt, die ist für die Liebe zur Schule. Eva hat mich im Rücken meines Vaters hasserfüllt angestarrt, aber sie hätte es nicht über sich gebracht, mich zu verraten, und mein Vater hat mir für meine geklaute Medaille einen so dicken Kuss gegeben, wie Eva ihn für alle ihre Medaillen zusammen noch nie bekommen hatte, und dabei hatte sie sich durchaus dafür angestrengt. Heute tut mir das wirklich wahnsinnig leid. Natürlich hat mein Vater sich auch über Evas Medaillen gefreut, aber bei ihr war das ganz normal – dass ich für etwas ausgezeichnet werde, war dagegen etwas Besonderes.
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