Und dann, wenn alles vorbei ist, denkt Carlatina, Rosen für den Menschen, der ihr Kornel zum Abschied übergeben und ihn nicht sofort hat sterben lassen. Rosen!
Die Holztür des Aufbahrungsraumes knarrt, sie hat eine schwere Türklinke aus poliertem Messing. Carlatina tritt nach draussen, unschlüssig, ob sie nochmals zurückblicken soll in die rosa-grünliche Verschleierung. Durch die halb offene Tür schaut sie zurück, und es ist ihr, als würde Kornel seine Hand heben zum Gruss, zum letzten zwischen ihnen. Erschrocken wendet sie sich ab – es gibt kein Paradies – und lässt die Türe hinter sich ins Schloss fallen.
Am Himmel vier gleich geformte Wolkenwellen in einer Reihe, weiss vor stechend blauem Himmel. Die fünfte, zuhinterst, hat sich zu Schlieren und Fetzen verflüchtigt. Da weiss Carlatina Bescheid. Zum ersten Mal weint sie seit Kornels Tod.
Die Nacht ist da, bereit, Erinnerungen preiszugeben. Carlatina steht vor dem Spiegel. Glück! Müde, ihr Gesicht ist älter geworden, die Tränensäcke etwas weicher, schrumpeliger, und sie allein mit Kornel. Sein Kuss streift sie diesmal in den langen Haaren über dem rechten Ohr, auf der dünneren Haut über dem Jochbein. Die kleine Stelle, das bisschen Haut, das bisschen Haar scheinen sich Kornel entgegenzustrecken, blähen sich auf, werden weich und warm. Sie versuchen mehr zu bekommen. Dieses Heisse auf der kleinen umgrenzten Stelle, aufbewahren für kühlere Tage, denkt Carlatina. Das für einen Augenblick bestehende junge Verliebtsein zieht sie mit der Wolljacke abrupt aus. Gröbere Alltagsberührungen, T-Shirt ausziehen, Haarknäuel ausbürsten, Nachtcreme gegen das Alter einreiben, lösen seine Zärtlichkeit ab. Kornels Streifküsse sind so selten geworden, dass sie sich jedes Mal fragt, was wohl Besonderes vorgefallen ist, dass es für einen Kuss ausgereicht hat. Es war kein Geburtstag, kein vergessener Hochzeitstag, niemand war gestorben, kein Kind geboren worden.
Kornel neben ihr im Bett liegend, riecht weich, laugig-samt. Wie Pilze im Wald nach einem allzu kurzen, feuchten Sommer, ein neuer, ein seltsamer Geruch, erinnert sie sich.
Und auf einmal ist die Erinnerung an Mia, ihre älteste Tochter, wieder da. Jahre sind seither vergangen. Es ist ein langes Gespräch zwi schen ihr und Mia. Gut und laut unter Frauen über das Erwachsenwerden, und wie sich Liebe, Zuneigung zwischen Mann und Frau plötzlich, ganz plötzlich ereignen kann, und über die Pille, die Mia haben muss oder will. Kornel kommt herauf von seinen Hunden, schaut beide Frauen, die junge und die ältere, etwas verstört an und wirft eine Packung Pillen, weiss mit rosa Aufschrift, wortlos zu ihnen hin. Der Karton streift Mias Ärmel, schlittert über den Tisch wie ein Stein über das Wasser und bleibt am anderen Ende des Tisches liegen. Ein Fremdkörper, der noch nie dort zwischen der Schale mit Orangen und der Hornbrille von Carlatina gelegen hat. Mit feuchten Augen reibt sich Mia den Oberarm. Im gleichen Augenblick schreit sie wütend los:
«Was willst du, Vater, dich jetzt plötzlich um deine erwachsene Tochter kümmern, wenn du dich vorher nur um deine Hunde und Katzen gekümmert hast?»
Trotzig ist Mia, die Türe hinter sich zuschlagend, hinausgerannt. Auf beiden Seiten sich kümmern, hat Carlatina damals gedacht, und jetzt wieder.
Ob das Gestreiftwerden wohl weh gemacht hat, fragt sich Carlatina neben Kornel.
Ihre Schläfe liegt heiss im Kissen, Beine und Arme zieht Carlatina in Embryostellung an den Körper, und der Schlaf findet sich lange nicht ein. Kornel schnarcht, gegen die Wand gedreht, regelmässig und laut.
Warum diese Wechselbäder der Gefühle, wenn Erinnerungen an früher und das Zusammenleben mit Kornel in ihr hochkommen? Sie erinnert sich an jedes Detail dieser Nacht, lange ist es her, und heute alles anders.
Heute Morgen muss Carlatina in den Wald, muss laufen, muss allein sein mit Je-suis-là, ihren Hund, nach der Nacht zu Hause, nach der rosa-grünlichen Verschleierung im Aufbahrungsraum. Sie muss weg. Ob sie Kornel heute noch sehen will hinter Glas?
Sie findet einen Kieselstein mit zwei goldgelben Streifen und Erinnerungen an ihren Vater kommen wieder.
Sie schob ihre Hand ein ganz klein wenig vor. Hielt sie wie ein kleines Kind, auf Weinbeeren oder Nüsse hoffend. Die Krankenschwester legte ihr den kühlen Plastikbeutel darauf. Nur unmerklich zuckte ihre Hand zurück vor den Effekten ihres Vaters. Im durchsichtigen Beutel, behutsam eingehüllt und doch so gut sichtbar, Vaters goldene Uhr, Vaters Taschentuch, Vaters Ehering und Siegelring und einen kleinen anthrazitfarbigen Stein. Durch das Plastik hindurch fühlten sich die Gegenstände kühl und hart an. Nur das Taschentuch war etwas wärmer und weicher. Der Stein, über den sich drei goldgelbe Linien wie mäandernde Flüsschen im Abendlicht hinzogen, schien sich in ihren Handteller zu schmiegen.
«Nimm was Kleines, einen dir lieb gewordener Stein, eine Glasmurmel, in deine Tasche. Befühle ihn, wenn du denken willst, bevor du sprichst!»
Vaters Stimme. Es waren Jahrzehnte vergangen seither. Ganz deutlich hört Carlatina die leise Stimme jetzt wieder.
«Wenn etwas dich bewegt, wenn Wut dich übermannt!»
Warum eigentlich ging nicht ihre Mutter die Sachen holen von ihrem Vater?
Carlatina selbst hat ihre Kinder nicht geschickt, gestern. Sie hat Kornels letzte Sachen selbst geholt. Auch die Brieftasche mit dem Foto von ihr darin, welches sie so sehr erstaunt. Auch den Brief, der sie noch mehr erstaunt. Wie konnte Kornel all die Jahre darüber schweigen? Sie wird den Kindern nichts erzählen davon, noch nicht.
Vaters Stein gehörte jetzt ihr, das wurde ihr damals schlagartig bewusst.
Kornel, so glaubt sie, hat nie ein solches Steinchen besessen.
Vor Jahrzehnten haben fremde Hände ihn aus Vaters Hosentasche genommen, haben ihn ihr in die hingehaltene Hand gelegt. Da war kein Nachdenken, keine Wut mehr, für die Vater den Stein gebraucht hätte. Carlatina war nur noch Mutters Tochter, kein Vater mehr, der sie in die Arme genommen, der sie bei ihrem Spitznamen gerufen hätte. Nur Vater durfte sie Tinatinelli nennen.
Wie jetzt bei meinen Kindern, denkt sie.
Der Geruch nach etwas Vergehendem, nach süsslichen Rosenblättern schwebt Carlatina noch in der Nase. Von gestern, denkt sie, nur kenn ich ihn jetzt, den Duft, nicht so wie bei Vater, als er mir noch ganz fremd war.
Damals stand sie im Halbdunkeln der Pflegenden gegenüber, im Rosenduft zwischen Tür und Tod. Was sollte sie mit dem Beutel ihres Vaters, diesem Stein, der sich, wie unverschämt, auf ihre Lebenslinie in ihre Hand legte? Das spürt sie heute noch, wie er sich da hinlegte. Die Sachen schmerzten sie. Beinahe hätte sie sie zurückgegeben. Sie gab sie nicht zurück. Die Pflegende nahm ihre Hand mitsamt dem Beutel wortlos in beide Hände. Es waren weiche, warme Hände. Die Hand von Carlatina liess sich damals tragen. Ihr Gewicht und dasjenige von Vaters Sachen liessen sich einfach aufheben …
Sie lässt den Stein im Wald liegen, die Erinnerung will sie stehen machen, die Vernunft sagt ihr weiterzugehen. Vier, fünf Schritte geht sie weiter, hat sich nicht mehr in der Hand, läuft einfach weiter. Dennoch spürt sie dieses Innehalten in sich. Ist es schon Zeit? Sie hat keine Verwendung mehr für den Kiesel. Jetzt würde sie ihn nicht mehr finden, ist schon zu weit gegangen. Ihren eigenen, durchsichtigen Bernstein trägt sie lange schon bei sich. Und Vaters Flüsschenstein liegt schon seit Jahren auf dem schmalen Bord ihres Schreibtisches, auf Reiseberichten und Gedichten, unter Vaters Foto, schwarzweiss. Carlatinas Lieblingsbild. Er hält seine erste Enkelin Mia behutsam in den Armen, so als wärʼs ein neugeschlüpftes Küken …
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