1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 René Decartes lebte als Philosoph, Physiker und Mathematiker in einer Zeit des Fortschritts und Aufstrebens der Naturwissenschaften, hier vor allem die der Mechanik. Dennoch fragte auch er nach dem Sinn des Seins des Menschens und teilte ihn res cogitans und res extensa also in die Spaltung von Körper und Geist ein. Die körperliche Substanz war für ihn eine völlig homogene Masse, die in ihrem Wesen ausschließlich in Breite, Höhe und Länge ausdehnbar ist (vgl. Anzenbacher 2010, S. 55). Diese Ausdehnung ist gekoppelt an die Möglichkeit der Bewegung und war für Decartes als Physiker von besonderem Interesse.
Der denkende Mensch ist für ihn eine ausschließlich denkende Substanz, die res cogitans. Das denkende Individuum ist getrennt vom körperlichen Dasein. Sein berühmter Satz »Ich denke also bin ich« ist Ausdruck dieser Trennung. Materielle Dinge sind strikt vom rein körperlichen Dasein getrennt und können als solches kein Merkmal der Körperlichkeit (res extensa) sein (vgl. Schmidlinger et al. 1999, S. 73).
Der Geist ist für Decartes die eigentliche Seins-Materie:
»Außer dem Geist erkenne ich nämlich noch nichts an mir. […] Ich weiß jetzt, dass die Körper nicht eigentlich von den Sinnen oder von der Einbildungskraft, sondern von dem Verstand allein wahrgenommen werden, und zwar nicht, weil wir sie berühren und sehen, sondern lediglich, weil wir sie denken; und so erkenne ich, dass ich nichts leichter oder evidenter wahrnehmen kann als meinen Geist.« (Descartes 1986, S. 96)
Dieser so erschaffene Dualismus in Form der Trennung von Körper und Geist findet sich heute noch in vielen Bereichen, z. B. in der Medizin, als klassisch-dualistische Perspektive wieder (vgl. Uzarewicz & Uzarewicz 2005, S. 25). So gibt es somatische Schwerpunkte in Krankenhäusern, wie internistische, chirurgische Fachgebiete und den Bereich der Psychiatrie mit der Ausrichtung auf psychische Erkrankungen. Diese strenge Teilung wird durch die stetige Entwicklung der Psychosomatik als ein (neueres) Fachgebiet der Medizin aufgehoben. Das biopsychosoziale Krankheitsmodell ist eine Ergänzung zu dem lange Jahre bestehenden biomedizinisch-naturwissenschaftlich ausgerichteten Modell. Es wurde erkannt, dass es eine Körper-Seele-Einheit (body mind unity) gibt, die sich bei vielen Erkrankungen nicht unerheblich gegenseitig beeinflussen (Egger 2017).
An dieser Stelle seien zwei bedeutende Vertreter der Psychosomatik kurz genannt. In den 1970iger Jahren gründete der Biologe und Mediziner Thure von Uexküll an der Ulmer Universitätsklinik gemeinsam mit der Pflegewissenschaftlerin Antje Grauhan aus Heidelberg und der Oberin des Ulmer Reformkrankenhauses Ilse Schulz in einem interdisziplinären Modellversuch eine der ersten internistisch-psychosomatischen Krankenstationen in Deutschland.
Zu Beginn des Beitrags wurden die Gedanken von Antonovsky (1923–1994) bereits genannt und ich komme an dieser Stelle nochmals darauf zurück. In den 1980iger Jahren entwickelte er das Modell der Salutogenese (salus = Gesundheit, genese = Wohlbefinden) und stellte damit die Verbindung zwischen körperlicher und seelischer Gesundheit und deren Entstehung her. Die Entstehung von Gesundheit, ist als Prozess und nicht als naturgegeben zu verstehen. Sie unterliegt damit nicht (nur) einem mechanistischen Reparaturschema, sondern beinhaltet weitaus mehr Einflüsse, wie Schutz- und Risikofaktoren, Coping-Strategien und Resilienz der erkrankten Personen (Tameling 2018).
2.4 Bedeutung einer dualistischen Denkweise in der Pflege für das Ehepaar Meier
Wenn man diese strenge dualistische Denkweise weiter verfolgt, so findet man diese in vielen Bereichen des Gesundheitswesens auch heute noch wieder. Für den ambulanten Arbeitsbereich wird sie z. B. anhand der Unterteilung der Pflege in Grund- und Behandlungspflege und damit in der täglichen Versorgung des Ehepaars Meier deutlich.
Die Entstehung dieser beiden Begriffe geht auf die in den 1950iger Jahren im angelsächsischen Raum veröffentlichte Studie zur Arbeit von Krankenschwestern zurück. Das deutsche Krankenhausinstitut (DKI) ließ diese Studie von der Ärztin Margarete Steinbrück und dem Krankenhausökonom und Theologen Siegfried Eichhorn übersetzen. Bei dieser Übersetzung passierten Fehler, die einen wesentlichen Einfluss auf die Finanzierungs-Qualifizierungsstruktur der Pflege hatten. So wurden im englischen Original die aufwendigen Patienten und zeitintensiven Tätigkeiten als »basic nursing« und die dazu angewendeten Pflegetechniken als »technical nursing« bezeichnet. Diese Begriffe wurden dann 1:1 ins Deutsche übersetzt in Grund- und Behandlungspflege. In Eichhorns Werk zur Krankenhausbetriebslehre nahmen diese Begriffe Einzug in den deutschen Sprachgebrauch, ohne die bis dahin bereits existierenden Pflegetheorien (z. B. Henderson 1966 oder Peplau 1952) mit einzubeziehen (vgl. Friesacher 2008, S. 192 f.).
Das Metaparadigma Professionelle Pflege beschreibt deren Aufgaben. Professionell Pflegende sind verantwortlich für die Ermöglichung von optimalen Outcomes für die Gesundheit der Patienten, eine respektvolle Beziehung in einer sicheren, fürsorgenden Umgebung. Die Kombination von pflegerischem Wissen zusammen mit technischen, kommunikativen, rechtlichen Fähigkeiten sowie die Zusammenarbeit mit anderen Professionen bildet die Grundlage der pflegerischen Arbeit. Der Wert der professionellen Pflege liegt in dem Angebot eines hohen Versorgungsgrades zugunsten des Wohlbefindens des Patienten.
Dieser hohe Anspruch an die professionelle Pflege wird mit der simplifizierenden und statischen Einteilung in Grund- und Behandlungspflege nicht gerecht. Dennoch setzten sich die beiden Begriffe in der Sozialgesetzgebung der Kranken- und Pflegeversicherung durch. Die Leistungen der Behandlungspflege werden heute aus der Krankenversicherung bezahlt und die der Grundpflege aus der Pflegeversicherung.
Für das Ehepaar Meier bedeutet dies, mit der Logik 12 von zwei Versicherungsarten zurechtzukommen. In der Praxis werden die Leistungen in der Behandlungspflege je nach Rahmenvertrag mit der Krankenkasse entweder von einer einjährig oder dreijährig ausgebildeten Pflegeperson durchgeführt. Die Leistungen aus der Pflegeversicherung können von unausgebildeten angeleitetem oder ausgebildeten Personal durchgeführt werden. Nach Interviewaussagen von examinierten Pflegekräften kann es durchaus in der Praxis üblich sein, das eine Haushaltshilfe Spritzen gibt, solange es nicht abgerechnet wird (vgl. Adam-Paffrath 2014, S. 126). Wichtig für das Ehepaar Meier ist eine Versorgungskontinuität, die im Zusammenhang mit der Abrechnungsfähigkeit der Leistungen nicht immer gegeben ist. Für den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung und die Durchführung von Vermittlungs- und Gewährleistungstätigkeiten (z. B. Absprachen mit Hausärzten, Apotheken, Sanitätshäusern), die in einem komplexen Care-Arrangement notwendig ist, erweist sich dieses System als kontraproduktiv (Kumbruck et al. 2010, Büscher & Horn 2010).
So kann es sein, dass morgens eine Pflegeperson zum Spritzen von Insulin (Behandlungspflege SGB V) kommt, mittags eine hauswirtschaftliche Arbeitskraft (hauswirtschaftliche Pflegehilfe (SGB XI) und abends für die Vorbereitungen zur Nacht eine andere Pflegeperson (Grundpflege SGB XI). Für den Pflegedienst bedeutet diese aufgezwungene Logik einen erhöhten und unbezahlten Planungsaufwand, da die Versorgung des Ehepaars Meier sich nicht nach deren Bedarfen orientiert, sondern in die Abrechnungslogik passen muss. Karen Christensen beschreibt das Dilemma zwischen dem, was gebraucht wird und dem, was im Licht der strukturellen Bedingungen noch möglich ist. Es geht um eine Qualität, die nur scheinbar vorhanden und bei näherem Hinsehen eine Leerformel ist (Christensen & Levinson 2003).
»30 % der Leistungskomplexe passen für das was gebraucht wird. Bei den anderen 70 % denke ich passt es eher nicht. Da müsste viel mehr drum herum laufen, um den Menschen dahin zu bringen, dass er wieder selbstständiger wird letztendlich« (vgl. Adam-Paffrath 2014, S. 126). Diese Interviewaussage einer professionellen Pflegeperson (P7), die seit vielen Jahren im ambulanten Pflegebereich tätig ist, beschreibt die Situation deutlich. Das heute übliche »Geschäftsmodell ist Quadratur des Kreises« (P5), es berücksichtigt nicht die individuellen Bedarfe der Meiers (vgl. Adam-Paffrath 2014, S. 124).
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