Der Kellner lässt sich ewig nicht blicken, und er ist währenddessen voll Sorge, dass es zu einer Folgeausrufung kommen könnte, diesmal mit Isolde am Mikrofon. Nimmt sie überhaupt noch ihre Medikamente? Oder hat sie sich wieder einmal für gesund erklärt? Er weiß es nicht. Er darf gar nicht daran denken.
Isolde wartet an genau der Stelle, wo er sie zuletzt gesehen hat. Im dramatischen Wurzeln ist sie Meisterin. Der auf Heinrich ruhende Blick ist die Gründler’sche Variante des Blicks der Medusa. Eigentlich rührt er mehr von der mütterlichen Linie her, deren Name ihm sicher gleich wieder einfallen wird. Und während er noch überlegt, führt Isolde mit tragender Stimme über sein Verhalten Klage. Zuerst nicht grüßen! Und dann einfach verschwinden! Ohne ein Wort zu sagen! Das sehe ihm ähnlich! Wie ihre Mutter immer sage …
„Manieren wie ein Bierkutscher“, ergänzt Heinrich resigniert. Sonst sagt er nichts. Es ist sinnlos mit Gorgonen zu streiten.
Was ihre Mutter sagt, denkt und will, ist auf der Rückfahrt, die aufgrund von Verkehrsbehinderungen noch länger dauert als die Hinfahrt, das beherrschende Thema: Es gibt Neuigkeiten. Sie sind schlecht. Mama hat beim Frühstück gemeint, sie fühle sich so beweglich wie schon lange nicht. Der in Erwägung gezogene Kuraufenthalt werde Erwägung bleiben. Gleichwohl müsse man sich für alle Eventualitäten wappnen, weshalb sie sich zum Einbau eines Treppenliftes entschlossen habe.
Nicht zuletzt wegen der Hunde, die dann nicht mehr in den Garten getragen werden müssten. Auf Heinrich sei in dieser Hinsicht ja kein Verlass, er lasse Cupido und Psyche immer die Treppen laufen, wenn er sich unbeobachtet fühle. Obwohl er genau wisse, dass Dackel zu Lähmungserscheinungen neigen, wenn man sie Stufen steigen lasse.
Darauf gibt es nichts zu erwidern. Die Vorwürfe treffen zu. Er mag keine Hunde. Weder ihren Geruch noch ihr Bellen noch ihre Angewohnheit sich im Alter mit gelähmten Hinterläufen auf dem Teppich zu entleeren.
Ein Treppenlift also. Die Montage wird nicht ohne Schmutz und Lärmentwicklung vonstattengehen. Ganz zu schweigen von den Kosten.
Viel schwerer wiegt freilich der Mobilitätsgewinn der Schwiegermutter. Seit ihrem Sturz vor drei Jahren ist der zu ihrer Wohnung führende Aufgang eine Art natürliche Barrikade. Heinrich findet, dass in der Hüftfraktur eine göttliche Gnade lag, denn allein hat sie den Abstieg danach kaum noch gewagt. Wenn sie etwas will, pflegt sie seither mit dem Stock auf den Boden zu klopfen. Wird ihrer Ansicht nach nicht schnell genug reagiert, schlägt sie gegen die Heizungsrohre. Das ist zwar lästig, aber immer noch besser als ihr bis dahin praktiziertes, unangemeldetes Auftauchen. Es wird wieder in diese Richtung gehen. Es ist …
Hinter ihm hupen Autos. „Es ist grün! Wieso fährst du denn nicht?! Ja, so fahr doch schon! Also wirklich!“
Heinrich fährt.
Der Kübel an Verdrießlichkeiten ist noch nicht vollends ausgeleert. Um den Treppenlift montieren zu können, wird man nicht umhinkommen, den Wandschmuck zu entfernen. Neben Zeugnissen von Isoldes bildendem Unvermögen besteht dieser aus Jagdtrophäen des Schwiegervaters. Heinrichs Frage, wo all die Spießer, Gabler, Sechs-, Acht- und sonstige Ender hinkommen werden, bleibt unbeantwortet. Das verheißt nichts Gutes für sein Zimmer. Wiewohl er sich zwischen all den Krickln, Geweihen und Präparaten nicht einmal schlecht machen würde. Denn in gewisser Hinsicht ist auch er bereits tot.
Tags darauf ist er von Schwiegermutter und Frau zum Frühstück vorgeladen. Kurz überlegt er, sich mit Unwohlsein zu entschuldigen, lässt es aber bleiben. Vielleicht ist sein Refugium ja doch noch zu retten.
Als er die Etage der Schwiegermutter betritt, beginnen die Hunde zu knurren. Die Frühstückstafel ist frugal, es gibt nichts, was Heinrichs Gaumen locken würde. An seinem Platz steht eine Schale mit Hildegard-von-Bingen-Brei, in den er etwas Quittengelee rührt. Gegessen wird schweigend. Dann ergreift die Schwiegermutter das Wort. Heinrich wisse ja, dass Unannehmlichkeiten ins Haus stünden, bauliche Maßnahmen, an denen er nicht ganz unschuldig sei, nein, er solle nicht widersprechen. Die Handwerker seien bereits bestellt. Das Letzte, was man beim Umbau brauche, sei ein jammernder, im Weg herumstehender Mann. Das gehe nicht an, also werde Heinrich für ein paar Tage verreisen. Man wisse auch schon wohin. Es habe sich eine ausgezeichnete Möglichkeit aufgetan: Heinrich kenne doch die Akademie, in der Isolde all die wunderbaren Kurse belegt habe? Nun, mit der gestrigen Post sei ein Gutschein für einen Gratiskurs gekommen. Den sie, nach Rücksprache mit ihr, Heinrich zur Verfügung stelle. Was er dazu sage?
Er male nicht, sagt Heinrich.
Das sei bekannt. Doch gebe es eine Fülle von Angeboten, von Möbelrestaurierung über Herrgottschnitzen bis hin zur Portraitphotographie. Es werde sich etwas finden.
„Ich …“, sagt Heinrich.
„Du brauchst dich nicht zu bedanken.“ Die Schwiegermutter streckt ihm die knochige, immer etwas klebrige Hand zum Kuss entgegen. Es schmerzt; sie trägt den Ring mit dem schartigen Stein, den sie gegen die Lippen des Schwiegersohnes presst. Die Audienz ist beendet.
Zum Abschied wird ihm die Zeitung ausgehändigt. Sie ist dicker als sonst, da ihr der Veranstaltungskatalog beigelegt ist. Heinrich verbeugt sich, ehe er geht.
Sein Zimmer ist an diesem Morgen nicht zur Sprache gekommen.
Der Raum liegt zur ebenen Erde und ist vollkommen überdimensioniert. Zwei Damen sitzen darin. Ein Herr, der draußen vor der Tür Dummheiten in sein Telefon säuselt, wird noch kommen. Es verspricht ein geschlechtlich ausgewogener Kurs zu werden.
Innerhalb der Gruppe scheinen Übertretungen gegen das sechste Gebot so gut wie ausgeschlossen. Der Herr, ein kahler, Testosteron schwitzender Mann Ende dreißig, ist, seinem infantilen Gemurmel nach zu schließen, gut versorgt.
Heinrichs Gefährdung wäre ohnehin gering. Bekanntlich lassen die Kräfte der Venus mit den Jahren nach. Beim einen stärker, beim anderen schwächer, bei Heinrich eher stärker. Hinzu kommt, dass die ältere der beiden Damen alt ist. Die jüngere erinnert Heinrich vom Typus her an Isolde. Bei all der Verbitterung, die ihr Gesicht spiegelt, wäre sie im parallel stattfindenden Aquarellkurs vielleicht besser aufgehoben. Aber unterm Strich ist es vermutlich egal, ob man der Depression mit Malen, Schreiben oder dem Kneten von Ton begegnet.
Er stellt sich den Damen vor. Zuerst der Älteren, die in der ersten Reihe, unmittelbar vor dem Tisch des Kursleiters, Platz genommen hat. Sie trägt ein Dirndl, ihre Haare sind zum Dutt hochgesteckt, die Physiognomie wirkt heiter. Den Händen ist anzusehen, dass sie gearbeitet hat. Der klassische Großmuttertypus ländlicher Prägung.
Die Verbitterte ist, als Heinrich sich ihr nähert, gerade im Begriff, den Platz zu wechseln. Sie sei, erklärt sie, unschlüssig, wo sie sich hinsetzen solle. Feng-Shui-mäßig sei der Raum eine einzige Katastrophe, vielleicht wäre es drüben am Fenster besser. Heinrich möge ihr behilflich sein, den dort stehenden Tisch umzustellen. Ihre Stimme ist energisch. Heinrich rückt und hilft eine unfassbare Menge an Mappen, Gläsern und Taschen hinüberzubringen. Ob sie sich sicher sei, im richtigen Seminar zu sitzen, der Aquarellkurs finde im Raum Grützner statt? Sie schnauzt ihn an: Natürlich wisse sie, wo sie sich befinde! Ob sie einen minderbemittelten Eindruck mache? Was sie mitnehme und wie viel, gehe niemanden etwas an, sie habe diese Entmündigungsversuche vonseiten der Männer so etwas von satt, sie könne gar nicht sagen wie.
Nach dem Ausbruch kommt für Heinrich nur ein möglichst weit von der Verbitterten entfernter Tisch infrage. Dem Dozenten, der kurz darauf in den Raum stürzt, bietet sich folgendes Bild: eine nette alte Dame, dahinter v-förmig aufgefächert ein Herr im Lodenanzug und eine weitere, unangenehm wirkende Teilnehmerin. Das klassische Szenario eines schlecht gebuchten Schreibkurses, das entfernt an die Flugformation eines überalternden, stark gelichteten Schwarms erinnert. Doch hat der Dozent, abgehetzt und atemlos wie er ist, kein Auge dafür. Er murmelt Worte der Entschuldigung für seine Verspätung, die mit dem Zustand seines Autos zu tun habe, wobei er sich verhaspelt und rot wird. Dann erst stellt er seine schäbige Tasche ab, der er einen Zettel entnimmt, auf dem vier Namen stehen. Ehe er auf den Ablauf des Kurses zu sprechen komme, würde er gerne mit einer Vorstellungsrunde beginnen. Er selbst heiße Schwarzbach, aber da es in den Kursen üblich sei, sich zu duzen, möge man ihn Georg nennen. Er begehe demnächst seinen vierzigsten Geburtstag, sei geschieden, Vater einer zu pubertieren beginnenden Tochter und freier Autor. Vielleicht habe jemand der Herrschaften ja schon etwas von ihm gelesen, sein letzter Roman Werwölfe bei Tag sei von der Kritik, etwa im evangelischen Buchbeobachter, recht wohlwollend aufgenommen worden. Der Dozent blickt erwartungsvoll in die Runde. Bedauerlicherweise hat noch keiner der Anwesenden von der Existenz eines Autors namens Schwarzbach gehört.
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