Odd Klippenvåg
Der Stand der Dinge
Roman
Aus dem Norwegischen
von Gabriele Haefs
Lindhardt & Ringhof
Als er erwacht, ist es noch dunkel im Zimmer; trotzdem kann er die Konturen des Wandschirms zwischen den Betten und die weiße Fläche der Decke gleich oberhalb des Fensters ahnen. Vorsichtig hebt er eine Hand vor sein Gesicht, die rechte natürlich. Er lässt sie gleich wieder sinken und schließt die Augen. Besser so, denkt er. Die linke Hand liegt eisig kalt auf seinem Bauch, wie eine tote Raubvogelkralle. Vielleicht wird er doch noch ein wenig schlafen können, hofft er.
Weil er hinter dem Wandschirm unruhigen Atem hört, fällt ihm plötzlich ein, wie achtlos eine von den jungen Neuen vor Kurzem war, als sie Hermansen gewaschen hat. Sie hatte den Wandschirm nicht richtig zurückgestellt, deshalb konnte er den abgemagerten weißen Körper sehen, der zitternd dastand und sich am Waschbecken festhielt, und als Hermansen einmal den Kopf hob und in den Spiegel starrte, sah er seinen ängstlichen, wässrigen Blick.
Wer wird zuerst sterben, Hermansen oder ich, überlegt er.
Ihm fällt ein, dass Frau Hermansen alle zwei Tage zu Besuch kommt. Wenn er es nicht selbst erlebt hätte, würde er niemals glauben, dass zwei Menschen über nichts so viel reden können. Aber das tun sie, er hört es ja. «Weißt du noch, Harald, dass heute Dienstag ist?» – «Nächste Woche lasse ich mich frisieren, Harald ...» Allerdings redet vor allem die Frau, Hermansen antwortet sozusagen immer mit nur einer Silbe.
Heute wird Annar kommen, denkt er.
Vor allem fehlen mir Annar und das Haus. Und mein eigenes Bett.
Noch vor wenigen Monaten war alles anders. Zu Weihnachten, über Neujahr ...
Obwohl das Wetter nicht das beste war, beschlossen wir, zu Silvester einen Skiausflug zu machen. Es war feuchtkalt und diesig, die Sicht so elend, dass ich nicht zum Gjevarvatn hinuntersehen konnte, und schon gar nicht hoch zum Rustfjell. Zuerst lief Annar die Hänge hinab, gefolgt von dem Hund, dann kam ich nach, viel vorsichtiger. Als ich unten war, spürte ich, wie sehr meine Waden zitterten, weil ich so heftig abgebremst hatte. Und ich war fast so außer Atem, als ob ich mich den Berg emporgequält hätte. «Geht’s gut?», fragte Annar. Ich nickte, und während Annar die Hundeleine an seinem Gürtel befestigte, merkte ich zum Glück, wie ich mich erholte und wie mein Atem sich beruhigte, und deshalb konnte ich meine Sorgen der letzten Tage verdrängen. Auf dem vereisten See hatte ein Schneemobil eine Fahrspur hinterlassen, also wagten wir die Überquerung. Wieder führte Annar an, mit langen, kräftigen Schritten, immer begleitet vom Flund. Als ich sah, wie Annar dahinjagte, lächelte ich nur und folgte in meinem eigenen Tempo. Außer uns war niemand zu sehen, keine Menschenseele, nur eine Krähe, die stumm und flügelschlagend im grauen Winterlicht quer über den See flog. Dieses Licht macht mich immer so ruhig, und ein Stück weiter vorn blieb ich dann stehen, ohne müde zu sein, nur um auf die Stille zu horchen, auf das gleichmäßige Sausen, das dort immer zu hören ist. Ich war schon so oft in dieser Landschaft gewesen, zu allen Jahreszeiten, dachte ich, in Mutters Landschaft. Natürlich gibt es in Telemark schönere Gegenden, großartigere, auch idyllischere, das weiß ich nur zu gut, aber diese hier ist eben zu meiner geworden. Gerade wegen der Stille, dachte ich, ohne Alpinanlage und Abfahrtsloipen voller lärmender Menschen.
Ich fand Annar bei der stillgelegten Hütte, wo wir immer eine Pause machen, er saß mit dem Hund vor der verwitterten grauen Holzwand. Auf den letzten Metern vom See zu ihm hoch sah ich, dass er telefonierte, aber als ich ihn erreicht hatte, hatte er das Telefon schon wieder im Rucksack verstaut. Der Hund sprang aus purer Wiedersehensfreude an mir hoch, ich musste ihn streicheln, sein Fell kraulen und mich von ihm im Gesicht lecken lassen, ehe ich mich auf das alte gelbliche Lammfell setzte, das Annar bereits ausgerollt hatte. «Wie war die Abfahrt?», fragte Annar. «Sehr gut», antwortete ich. «Deine nicht?» – «Doch», sagte er, «ich hatte nur das Gefühl, dass du so weit zurück warst.» Darauf gab ich keine Antwort, ich packte lieber die Thermoskanne mit dem heißen Kaffee aus. Als ich für uns beide eingegossen hatte, bot Annar Schokolade an. «Nimm mehr», sagte er, und das tat ich und gab auch dem Hund ein Stück. «Willst du, dass Caro fett wird?», fragte Annar übellaunig. Ich stellte mich taub und sagte: «Hier ist es doch schön, sogar bei diesem Wetter?» Vielleicht war das keine richtige Frage, denn Annar schwieg. Ich fuhr ihm rasch mit der Hand über den Rücken, versöhnlich, gewissermaßen. Danach starrte auch ich stumm vor mich hin, auf das andere Seeufer, in Richtung Langlim.
Auf dem Rückweg gingen wir zusammen, Annar vorweg in der Spur, langsamer jetzt, meinetwegen, das begriff ich immerhin. Die ganze Zeit konnte ich den Anblick seines geschmeidigen Körpers genießen, schließlich trägt er immer einen eng sitzenden Skianzug. Der Anblick seiner Hinterbacken und der muskulösen Oberschenkel schien mir neue Energie zu geben, denn auf dem Weg über das Eis musste ich nur eine einzige Ruhepause einlegen. Und dann sah ich unten am Ufer zwischen den Bäumen einen Elch.
Plötzlich steht die Nachtschwester da, er hat sie gar nicht kommen hören.
«Was ist los, Simon», flüstert sie, «tut es dir irgendwo weh?»
Mir tut es immer irgendwo weh, denkt er und spürt, wie sie die Decke höher über seine Brust zieht, obwohl ihm wirklich nicht kalt ist.
«Du hast geklingelt», sagt sie. «Macht dir irgendwas Sorgen?»
Er kann sich nicht erinnern, geklingelt zu haben, deshalb gibt er keine Antwort.
«Es ist erst halb sechs», sagt sie.
Gleich darauf ist sie verschwunden, und er hört, wie die Tür leise ins Schloss gleitet.
Ich hätte sie fragen können, ob heute nicht Sonntag ist, denkt er, sonntags kommt Annar doch immer.
Er merkt, dass er Durst hat, und er dreht den Kopf, bis er den Nachttisch als riesiges dunkles Viereck dicht neben seinem Kopfkissen ahnt. Aber den Arm nach dem Glas Wasser auszustrecken, das wagt er nicht.
Vor zwei Wochen hat Annar mir süße blaue Pflaumen mitgebracht. Jetzt ist die richtige Zeit dafür. September. «Siehst du, womit die Ähnlichkeit haben?», fragte ich und hielt mir eine Pflaume vor den Mund. Und Annar wurde wirklich rot!
Ich bin ein unverbesserliches altes Schwein.
Es fing ausgerechnet am Heiligen Abend an. Beim Essen. Wir hatten die Vorspeise verzehrt, den Graved Lachs, die Schweinerippen, und nun waren wir beim Dessert angekommen. Ich wollte gerade aufstehen, um die Puddingschüsselchen zu holen und die Multebeercreme aus dem Kühlschrank zu nehmen, als ich in der Brust einen schmerzhaften Druck verspürte, deshalb blieb ich sitzen. Annars Gesicht strahlte mir im Licht der Kerzenleuchter entgegen, die wir auf beide Seiten des Tisches gestellt hatten. Er sieht ja so elegant aus mit weißem Hemd und Fliege, dachte ich, als Annar sein Glas hob, um mir ein weiteres Mal zuzuprosten. «Was ist los?», fragte er und ließ das Glas sinken. «Bist du krank?» Ich musste mich vorbeugen, so weh tat es. Annar sprang auf und lief um den Tisch herum, um mich wieder aufzurichten. «Warte einen Moment», konnte ich hervorbringen. So saß ich dann da, vornübergebeugt und die Augen geschlossen, für vielleicht zwei Minuten. Ich spürte Annars Hände auf meiner Schulter, wie sie mich massierten. «Wo tut es weh, Simon», hörte ich ihn fragen, «soll ich einen Arzt holen?» Ich hatte auch im linken Arm Schmerzen, und im Nacken merkte ich eine seltsame Wärme, als ob sich dort alles zusammenzog, aber weil Annar den Arzt erwähnt hatte, riss ich mich zusammen und setzte mich gerade hin. «Du schwitzt», sagte Annar, nahm meine Serviette und wischte mir die Wange ab.
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