War es ein Kuss, wenn Onkel Gustav dabei die Lippen auf meine Haare drückte? Für einen Moment spürte ich eine warme feuchte Stelle mitten auf dem Kopf.
Onkel Gustav kannte einen Mann. Damals redete man nicht darüber. Auch nicht in den fünfziger Jahren. Im Krieg ...
Die beiden Lebensmittelhändler in Telemark, jeder auf seiner Seite des Heddalsvei. Immer sah ich sie, wenn wir Tante Aste und Onkel Jarmund besuchten.
Meine Tante und mein Onkel hatten auf Nesøya ein Krähenschloss, dort, wo der Tinnå ins Heddalsvann mündet. Auf dem anderen Flussufer lag das Eisenwerk Tinfoss, wo Onkel Jarmund als Kranführer und Mann für alles tätig war. In Nesøya gab es zudem unbebaute Gebiete, voll von Kohlenstaub. Hier hatten die Deutschen ein Exerziergelände, und wenn wir einkaufen gingen, konnten wir den rhythmischen Gesang hören, wenn die Soldaten zu ihrem Lager weiter oben in der Stadt marschierten. «Die Fahne hoch», sangen die Soldaten, oder «Alte Kameraden».
Weshalb machte ich mir Gedanken über die beiden Lebensmittelhändler? Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendwer mir erzählt hätte, dass sie Junggesellen waren. Dass sie zusammen ein Ferienhaus gebaut hatten. Wusste ich es einfach so? Samstags fuhren sie immer gemeinsam mit dem Bus. Jeder mit seinem Rucksack und einer am Rucksack hängenden Milchkanne. Immer hatte jeder einen Liter frisch geseihte Milch gekauft. Sie waren damals so um die vierzig. Scheinbar Konkurrenten. In Wirklichkeit Freunde.
«Kannst du dich jetzt anziehen, Simon?», fragt die junge Neue.
Er ist so weit weg in Gedanken, deshalb zuckt er zusammen. Aber weil er sieht, dass Hermansen schon angezogen ist, dass sie ihn zum Warten auf einen Stuhl neben dem Bett gesetzt hat, bleibt er ganz ruhig.
«Nur noch schnell etwas Duft unter die Arme», sagt er.
Er ist selbst von sich überrascht, als er sich vom Waschbecken abwendet und Hermansen einen guten Morgen wünscht. Als Antwort bekommt er nur diesen ängstlichen Blick, und auch die Neue scheint nicht zu hören, dass er sich Mühe gegeben hat. Sie läuft zu seinem Kleiderschrank und fragt:
«Sollen wir heute ein neues Hemd nehmen, Simon?»
«Ja», antwortet er und geht vorsichtig los, indem er sich zuerst an Hermansens Bettkante festhält, dann stützt er sich auf sein eigenes Bett.
«Findest du vielleicht ein weißes Hemd», bittet er, «schließlich ist Sonntag.»
Als sie eins gefunden hat, sieht er, dass sie bereits erschöpft ist, denn ihr Gesicht ist schweißnass und rot angelaufen.
«Setz dich auf den Stuhl, damit du nicht fällst, Simon», sagt sie und fängt an, ihn anzuziehen.
Wieder muss er sie bitten, mit seinem kranken Arm vorsichtig umzugehen.
«Tut es weh?», fragt sie.
«Na ja, was heißt schon weh», antwortet er.
Hermansen trägt ein hellblaues Hemd, und plötzlich merkt er, dass etwas nicht stimmt.
«Du hast Hermansens Hemd falsch geknöpft», sagt er.
Sie schaut kurz zu Hermansen hinüber, bringt das Hemd aber nicht in Ordnung. Sie sagt nur:
«Und jetzt die Hose, Simon.»
«Und die Schuhe», sagt er, «das ist das Schwierigste.»
Er kann ihren Atem hören, als sie sich aufrichtet, nachdem sie seine Schnürsenkel zugebunden hat. Für einen Moment sieht er, wie sie sich reckt und die Hände ins Kreuz presst, dann lächelt sie und sagt:
«Dann wären wir so weit, Jungs! Du findest den Weg doch selbst, Simon?»
«Glaub schon», sagt er und erhebt sich, als sie Hermansen vom Stuhl hochzieht, um ihn in den Aufenthaltsraum zu bringen. Sie sind schon weit vorn im Gang, als er hinterherkommt. Allein vom Zimmer zum Aufenthaltsraum zu gehen, ist eine Belastung, denkt er und hält sich am Geländer an der Wand fest. Er weiß, dass er beim Gehen seltsame Bewegungen mit dem linken Fuß macht. Er hebt den Fuß zu hoch und dreht ihn nach innen, ehe er ihn aufsetzt. Das muss ja vielleicht komisch aussehen, denkt er.
Am Ende hat auch er seinen festen Platz am Fenster neben Hermansen erreicht, und Hermansen starrt ihn verwundert an, als ob er ihn nicht wiedererkennt. Noch eine halbe Stunde bis zum Frühstück, sieht er. Und Frau Roll ist nicht gekommen. Bei Hermansen fehlt die Orientierung, denkt er, und bei mir die Motorik.
Ein ganzes Leben zwischen bäuerlichen Antiquitäten, und dann bin ich hier gelandet!
Anne, diese Freundin von Inger ... «Zuerst haben mich diese Dinge als Kunstgegenstände eigentlich nicht interessiert», erzählte ich ihr, «aber als ich den Laden von Onkel Gustav übernommen hatte, wurde das anders.» Und ich verbreitete mich darüber, wie diese Gebrauchsgegenstände, ein Esstisch zum Beispiel, ein Hängeschrank mit Rosenmuster oder ein Bierhuhn, ihren Charakter änderten. Wie sie neues Leben bekamen, wenn sie sich aus Nutzgegenständen in Kunst verwandelten. «Überleg mal», sagte ich. «Wie die Zeit uns von denen trennt, die diese Dinge hergestellt und benutzt haben; jetzt sind es die Gegenstände selbst, die uns verbinden.» – «Ja», antwortete Anne. «Wir hatten auf unserem Gebirgshof in Kvam allerlei solche Dinge.» Ich war überrascht darüber, was sie da sagte, dass sie aus Gudbrandsdalen kam, aber mir wurde klar, dass ich immer schon gehört hatte, dass sie einen ganz eigenen Klang in der Stimme hatte, einen abgeschliffenen Akzent, der nicht aus dem Gebiet von Oslo kam, aber ich hatte mir keine Mühe gegeben, diesen Akzent unterzubringen. Ich wollte ihr allerlei Fragen über den Hof stellen, aber sie stand auf, um auf die Toilette zu gehen. «Wie findet ihr sie?», fragte Inger, als Anne verschwunden war. «Sie ist reizend», sagte Annar, «richtig reizend.» – «Ja, das ist sie», sagte auch ich. «Du musst sie gut behandeln, Inger.» Schon berauscht vom Wein, war Inger plötzlich wieder so ernst wie zu Beginn ihres Besuches, als sie uns ihre Freundin vorgestellt hatte. «Aber sicher ist sie reizend», sagte sie. «Ich liebe sie.»
Und nur wenige Tage zuvor, am Heiligen Abend ... Annar war so überrascht, dass er sich fast sein weißes Hemd mit Kaffee bekleckert hätte, als ich fragte, ob er sich daran erinnern könne, wie er zum ersten Mal auf mich aufmerksam geworden sei. «Das ist ja eine seltsame Frage», sagte er und brachte die Tasse auf der Untertasse in Sicherheit. «Warum willst du das gerade jetzt wissen?» – «Weil es mich interessiert», antwortete ich nur. Er fuhr sich über das Kinn und wartete ein wenig, ehe er antwortete: «Nein, weißt du was, das weiß ich nicht mehr.» – «Gar nichts?», fragte ich, um ihn unter Druck zu setzen. «Absolut nicht», sagte er. Aber nachdem er aufgestanden war und das Fenster geschlossen hatte, kam es dann: «Jedenfalls kann ich das nicht mit einer bestimmten Episode in Verbindung bringen, es kommt mir eher vor wie ein Zustand. Ich habe dich von meinem Zimmer aus gesehen, schon als ich noch ganz klein war.» – «Woran erinnerst du dich?», fragte ich. «Ich weiß noch, dass du vom Lieferwagen aus allerlei Dinge in den Schuppen getragen hast», sagte Annar und lächelte. «Truhen, Regale und bemalte Schränke. Manchmal hattest du jemanden zur Hilfe, und im Sommer warst du oft oben ohne.»
Erst später, als Anne von der Toilette zurückgekommen war und vor der Vitrine stand, änderte sich alles. «Jetzt müssen wir es ihnen sagen, Anne», sagte Inger. «Oder nicht?» – «Wenn du willst», sagte Anne und drehte sich zu uns um. Inger griff nach ihrem Cognacglas, und nachdem sie getrunken hatte, sagte sie: «Wir haben beschlossen, ein Kind zu bekommen, Anne und ich!» Die Nachricht ließ die Zeit stillstehen, so kam es mir vor. «Nun sagt doch was!», rief Inger. «Klatscht in die Hände!» Also riss ich mich zusammen und gratulierte. «Das ist aber eine Überraschung», sagte ich. Annar sprang auf und schenkte Cognac nach, und wir stießen alle an. «Aber wie wollt ihr das machen?», fragte Annar dann. Diese Frage führte zu neuer Stille, und in dieser Stille setzte Anne sich ziemlich schnell in den Sessel. «Es gibt Spender», sagte Inger. «Wir können ins Ausland fahren.» – «Und wer soll das Kind austragen?», fragte Annar. «Anne natürlich», antwortete Inger. «Ich bin zu alt.» Ich versuchte, der gedämpften Jazzmusik zu lauschen, die aus der Stereoanlage kam, aber es ging nicht. Ich fühlte mich seltsam angespannt durch all das, was ich hier erfahren hatte. Warum, überlegte ich. Wenn Inger und Anne sich Kinder wünschen, geht mich das doch eigentlich gar nichts an. Mir ging erst auf, wie sehr ich mich da irrte, als Inger nun sagte: «Das Einfachste wäre es, wenn du, Annar, Vater werden wolltest, wir haben uns das überlegt, weißt du.» – «Ich?!», sagte Annar wie aus allen Wolken gefallen. «Meint ihr das ernst?»
Читать дальше