«Sicher meinen wir das ernst», antwortete Inger. Annar sah mich fragend an, hilflos, aber ich wandte mich ab, ich sah Annes Hand an, die Caros Fell streichelte. Das hier habe ich nicht gehört, dachte ich, ich weigere mich, es zu glauben. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte sie alle sitzen lassen, aber nun fragte Inger: «Was meinst du, Simon, würde es dir gefallen, wenn Annar Vater würde?» Es war einfach unglaublich unverschämt, mit so einer Frage konfrontiert zu werden, ohne Vorwarnung, am zweiten Weihnachtstag. Trotzdem riss ich mich zusammen. Ich musste an die Unruhe denken, die Annar in unseren ersten gemeinsamen Jahren verspürt hatte, ich hatte geduldig mit ihm sein müssen, nachsichtig, auch was seine Frauengeschichten anging. Ich sagte: «Das ist Annars Sache, ich habe mir niemals Kinder gewünscht.» Ich merkte, dass alle mich anstarrten, auch Anne. «Du darfst dich nicht übergangen fühlen», sagte Inger. «Ich bezweifele ja gar nicht, dass auch du noch Mehl im Sack hast.» Nun reichte es mir, ich sprang auf und sagte: «Verzeihung, aber manchmal bist du so vulgär, Inger, dass es eine Schande ist, sich das anhören zu müssen.» Dann verließ ich sie, dicht gefolgt von Caro, und als ich durch das Esszimmer ging, hörte ich nur meinen keuchenden Atem und die Hundepfoten auf dem Parkett.
Als Annar jung war, musste ich nicht besonders vorsichtig sein, wenn ich sonntags aus dem Bett aufstand, so tief schlief er. Am liebsten auf dem Bauch, den Kopf auf dem Kissen zur Seite gelegt, verdreht fast. Und mit offenem Mund. Oft lief ich eine Runde mit dem Hund. Damals war es so still. Obwohl Tankstelle und Imbiss schon gebaut worden waren, als Annar zu mir ins Haus zog. Vater tot, Mutter nicht ... der Imbiss öffnete ohnehin erst nachmittags. Und die Autowerkstatt war geschlossen. Hinter dem Haus lag der noch unbebaute Hügel. In der Regel lief ich dort hinauf. Über den schmalen Weg. So schlammig und glitschig im Frühjahr, zundertrocken im Sommer. In den Wald. Und der Hund jagte vor oder hinter mir her. Und war zwischendurch auch gar nicht zu sehen. Versteckt im Gebüsch. Aber wenn ich pfiff, war er gleich wieder da.
Ich erinnere mich an die Wiesen mit den Leberblümchen. Und daran, wie die Knospen an den Bäumen sich öffneten.
In jenen Jahren ... ich glaube, ich bin damals bei Sonne und bei Regen gelaufen. Ich brauchte auf nichts Rücksicht zu nehmen. Jedenfalls nicht auf die Gesundheit. Und wenn Annar noch nicht aufgestanden war, wenn ich nach der Rückkehr geduscht hatte, fing ich an, Frühstück zu machen.
Und damals, als Annars Mutter auftauchte ... da bot ich ihr Kaffee aus der Thermoskanne an.
Ich hatte sozusagen geahnt, dass etwas passieren würde. Und dann stand sie eines Tages in der Schuppentür und bat flehentlich für Annar. Ob ich nicht so gut sein könne, sie wisse einfach nicht weiter. Dann kam die ganze Geschichte. Über den Mann, der sie verlassen hatte. Allein ihre Stimme, die so deutlich war. So flehend. Ich bat sie, hereinzukommen und sich zu setzen, aber das schien sie nicht gehört zu haben, so verzweifelt war sie. Ob ich Annar nicht wenigstens probeweise anstellen könne. Zwei Tage in der Woche. Viel Lohn brauche er nicht. Als sie endlich in den Schuppen kam und sich auf eine Truhe gesetzt hatte, schaute sie sich verwirrt um. Als hätten ihre Augen sich noch nicht an die Dunkelheit dort drinnen gewöhnt. Das war im Herbst 1967. Ich sagte, ich wolle es mir überlegen, aber sie verlangte, dass wir sofort zu einer Einigung kämen. Da und dort. Sonst wäre es zu spät. Und ich müsse mit Annar reden. Denn er schwänzte die Schule. Und das schon lange. Ich müsse fragen, ob er wohl Lust hätte, wenigstens zwei Tage pro Woche bei mir zu arbeiten. Sie könne es ihm nicht vorschlagen, denn dann werde Annar sich weigern. Da war sie sich sicher. Und eigentlich dürfe er auch nicht erfahren, dass sie sich an mich gewandt hatte.
Und da kommt Frau Svendsen mit ihrem Rollator angeschlurft. Und endlich Kaffeeduft.
Er sitzt allein mit Hermansen am Tisch, Frau Roll lässt sich nicht blicken. Er will nicht nach ihr fragen, denn er hat Kaffeedurst und Hunger.
«Jetzt wird uns der Kaffee aber schmecken, Hermansen», sagt er und bekommt ein ganz leichtes Lächeln als Antwort.
Auf seinem Teller liegen zwei belegte Brote, genauer gesagt, vier halbe, zwei mit Käse und zwei mit Marmelade. Heute gibt es braunen Ziegenkäse und Himbeermarmelade. Aber er will nicht protestieren, er isst fast alles. Als Kind, das weiß er noch, durfte er den Tisch erst verlassen, wenn sein Teller leer war. Ganz leer.
Annar und ich hatten immer einen reifen Roquefort auf dem Tisch, denkt er. Und er versucht, sich an so viele Käsesorten zu erinnern wie überhaupt nur möglich. Das ist eine Art Gehirngymnastik, er macht es jeden Tag, wenn er es nicht vergisst. Nøkkelkäse, denkt er, und Ridderkäse und Brie und Gouda und Cheddar und Gorgonzola ...
«Hier sind deine Pillen, Simon», sagt eine Pflegerin.
Es sind zwei weiße und eine rote. Sie passt auf, dass er die auch nimmt. Er hat schon oft mit dem Gedanken gespielt, zu fragen, ob sie nicht glaubt, dass er die nehmen wird, ob sie meint, er wisse nicht, was gut für ihn ist. Aber gefragt hat er dann doch nie ... Hermansen muss sogar die Zunge herausstrecken, damit sie sicher sein kann.
Als die Pflegerin mit ihrem Medizintablett zum nächsten Tisch weitergegangen ist, ist er absolut nicht mehr sicher, ob er sich bei den Käsesorten auch an Ridderkäse erinnert hat. Deshalb fängt er noch einmal an. Es gibt Brie und Gouda und Ridder ... Er sieht, wie Hermansen mit beiden Händen seine Brote nimmt, er selbst kann die Raubvogelkralle nicht benutzen.
«Solange wir Appetit haben, sind wir doch immerhin am Leben», sagt er zu Hermansen.
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