»Revolutionäre?«, fragte ich überrascht. »Sie haben diese Tunnel benutzt?«
»Ja, sowohl 1789 als auch während der Studentenproteste 1968. Du musst wissen, dass sogar die Nazis während des Zweiten Weltkriegs hier unten einen Bunker gebaut haben. Er liegt auf unserem Weg. Dort werden wir eine Stunde lang rasten.«
Irgendwo über uns erklang ein schwaches, anhaltendes Grollen, wie vom sonoren Rauschen des Ozeans. Wir hielten inne und lauschten. Es dauerte etwa zehn Sekunden, dann kehrte wieder Stille ein.
»Das ist die Metro«, erklärte Danièle. »In der Nähe sind Schienen.«
Bis spät Arbeitende, die zu ihren Häusern und Familien zurückkehrten, jüngere Männer und Frauen, die sich auf den Weg machten, um sich mit Freunden zu treffen. Mit anderen Worten, der gewohnte Gang des Lebens. Diese alltäglichen Bilder ließen das Tunnelgraben im Dunkeln und im Schmutz unter Paris umso unwirklicher erscheinen.
Pascal, der darauf aus zu sein schien, in Bewegung zu bleiben, sagte: »Montez la garde« und ging weiter.
»Ja, seid vorsichtig«, sagte Danièle zu uns. »Die Deckenhöhe variiert. Ihr müsst auf der Hut sein. Ihr müsst auf euren Kopf aufpassen. Und auf eure Füße. Ihr wollt nicht in eine Felsspalte oder eine Senke treten. Manche können sehr tief sein.«
»Wie tief?«, fragte Rob.
»Ich weiß es nicht, Rosbif«, rief sie über die Schulter hinweg. »Ich bin nie bis zum Grund gelangt.«
DANIÈLE
Der Trick bestand darin, nah bei der Person vor einem zu bleiben, um im Rückstrahl ihrer Lampe sehen zu können, und Danièle hielt sich so dicht an Pascal, dass sie nach ihm greifen und ihn berühren konnte, wenn sie das wollte. Sie hatte nicht gescherzt, als sie Will und Rob geraten hatte, aufzupassen, wohin sie traten. Berichten zufolge hatte eine Gruppe Kataphiler im letzten Dezember eine Wand im abgelegenen Westteil der Tunnel durchbrochen und nie zuvor gesehene Korridore entdeckt, von denen einer eine Reihe lebensgroßer, aus dem Kalkstein gehauener Statuen vorwies. Während eines Ausflugs, um die Statuen zu sehen, hatten Danièle und Pascal einen alleine in einer kleinen Kammer sitzenden Mann getroffen. Er war schwach und hatte Wahnvorstellungen aufgrund von Dehydration. Sie gaben ihm Essen und Wasser, und als er wieder bei ausreichend klarem Verstand war, zeigte er ihnen seinen Knöchel, den er sich, wie er erklärte, gebrochen hatte, als er in eine sechzig Zentimeter tiefe Felsspalte getreten war. Der Knöchel war auf die Größe einer Cantaloupe-Melone angeschwollen und von dunkelrotfleckigen Stellen verunstaltet. Sein Freund war aufgebrochen, um Hilfe zu holen, aber er war nie zurückgekommen. Der Mann wusste nicht, wie lange das her gewesen war, konnte sich kaum daran erinnern, an welchem Tag er die Katakomben betreten hatte, aber angesichts seines schlechten Zustands war anzunehmen, dass mehrere Tage vergangen waren. Ebenso war es wahrscheinlich, dass sein Freund kein erfahrener Kataphiler war und es nicht geschafft hatte, wieder zurückzufinden.
Daher waren die Gefahren hier unten ernstzunehmen, wie sie fand. Aber wenn man klug war, wenn man einen so erfahrenen Führer wie sie oder Pascal hatte, dann würde einem aller Wahrscheinlichkeit nach nichts geschehen.
Während der nächsten circa fünfzehn oder zwanzig Minuten vergaß ich die Graffiti und richtete meine Aufmerksamkeit wieder nach unten, um nach den anscheinend bodenlosen Spalten und Senken, von denen Danièle gesprochen hatte, Ausschau zu halten. Ich sah keine, aber ich entdeckte weggeworfene Wasserflaschen, Bonbonpapiere und allerlei andere Gegenstände. Irgendwann bekam das monotone Knirschen unserer Schritte Gesellschaft vom Tröpfeln von Wasser.
Pascal behielt sein schnelles Tempo bei und der Rest von uns folgte dicht hinter ihm, während er um eine Kurve nach der anderen ging, vorbei an zahlreichen abzweigenden Gängen, welche sicher alle zu wieder anderen führten, und diese dann wieder zu anderen, was auf das ungeheure Ausmaß dieses unterirdischen Reichs hindeutete. Danièle hatte nicht übertrieben, als sie es ein Labyrinth genannt hatte. Es war ein wirrer Irrgarten von mehr als – was hatte ich gelesen? Dreihundert oder vierhundert Kilometern insgesamt? Wenn man die Tunnel zu einem einzigen langen Frankensteinwurm zusammenfügte, überträfe der die Breite des Staates New York. Das ließ mich über die Konstruktion der Tunnel nachdenken. Wer waren die Männer, die sie gegraben hatten, wahrscheinlich mit wenig mehr als Schaufeln und Schubkarren? Gesetzesbrecher, die keine andere Anstellung fanden? Verarmte Bauern auf der Suche nach normaler Arbeit, die nicht von den Jahreszeiten oder dem Klima abhing? Wer immer sie waren, sie hatten sich vermutlich ihr ganzes Leben lang unter Tage im Staub, in der Feuchtigkeit und manchmal im Stockdunkeln abgemüht – falls sie nicht vorher erdrückt, lebendig begraben oder von Infektionen und Krankheiten ausgeschaltet wurden.
Weiter vorne rief Pascal: »Ciel!« Während ich versuchte, herauszufinden, was das zu bedeuten hatte – rums . Ich blieb stehen, mir war schwindelig, meine Ohren klingelten.
»Gehts dir gut, Boss?«, fragte Rob. Er hatte sich umgedreht, um nach mir zu sehen, und seine Stirnlampe schien mir in die Augen.
Ich nahm den Helm ab und berührte einen brennenden Punkt oben an meiner Stirn. Kein Blut, noch nicht. Eine empfindliche Beule pochte.
»Was ist passiert, Will?«, fragte Danièle, schlüpfte an Rob vorbei und blieb vor mir stehen.
»Ich hab mir den Kopf angeschlagen.«
Sie teilte mein Haar. »Keine Platzwunde zu sehen.«
»Mir gehts gut.«
»Ich hab dir gesagt, du sollst vorsichtig sein. Weißt du noch, ich sagte, die Deckenhöhe …«
»Ich hab nicht gesehen, dass Rob den Kopf eingezogen hat, also hab ich’s auch nicht getan.«
»Ja, aber er ist viel kleiner als du.«
»Das ist mir jetzt auch klar, Danièle, danke.«
»Es tut mir leid. Ich hätte es erklären sollen. Ciel bedeutet Himmel . Das rufen wir, wenn die Decke nach unten vorspringt.«
»Verstanden«, sagte ich.
Nachdem ich ihr noch einmal versichert hatte, dass es mir gut ging, dass ich keine Pause brauchte, gingen wir weiter. Als der Tunnel breit genug wurde, dass wir nebeneinander gehen konnten, schloss ich neben Rob auf. Er warf mir einen Seitenblick zu und fragte: »Weißt du, woran mich dieser Ort erinnert?«
»Woran?«
»An Vaginen.«
Ich lächelte, mehr oder weniger. Welche Anspielung hatte ich von ihm erwartet? Tom Sawyers Abenteuerlust? Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde ? Jonas und der Wal?
»Ich mein’s ernst«, fuhr er fort. »Überall, wo ich hingucke, seh ich eine. Das ist Vaginaland, Naturporno. Sag bloß, das siehst du nicht?«
»Da ist was dran«, sagte ich, während ich über all das metaphorische Psychogelaber über Höhlen und Schöße und Mutter Natur und Fruchtbarkeit nachdachte. Ich musste auch zugeben, dass die Vorstellung vom Eingang zu den Katakomben, durch den wir gekommen waren, als Vulva, von Pascals Pausenraum als Uterus und diesen Tunneln als Eileitern nicht allzu weit hergeholt war, wenn man es unbedingt wollte.
Rob sagte: »Jetzt versteh ich, warum Rascal seine ganze Freizeit hier unten verbringt. Was ein Perversling.«
Vor uns griff Pascal in eine kleine Rinne in der Wand, tastete darin umher und ging dann weiter.
»Wonach sucht er?«, fragte ich.
»Keine Ahnung.« Rob rief etwas auf Französisch. Pascal antwortete ihm. Rob lachte. »Er hat gesagt, dass jemand mal einen Junggesellenabschied hier unten gefeiert hat. Sie haben eine Visitenkarte mit Datum und Wegbeschreibung in der Wand hinterlegt. Wer sie findet, ist eingeladen. Er wollte nachsehen, ob es was Neues gibt.«
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