Das Hauptpräsidium der Pariser Polizei teilte mit, dass drei britische Staatsangehörige am späten Montagabend in den Pariser Katakomben während eines Erkundungsgangs mit Freunden verschollen sind.
Als sie nicht zur Oberfläche zurückkamen, benachrichtigen die Freunde die Polizei, die mehrere Tage erfolglos mit der Suche nach den vermissten Männern zubrachte.
Gaspard Philipe, Mitglied der Polizeieinheit, die die alten Steinbruchtunnel überwacht, sagte am Freitag gegenüber RTL Radio, dass sich jeder, der in Betracht zieht, die Tunnel zu betreten, der Gefahren bewusst sein sollte.
»Der Zugang ist der Bevölkerung nicht nur verboten, er ist gefährlich. Man kann sich verlaufen. Es gibt Einstürze. Sie wissen nicht, was Ihnen begegnen kann. Wenn Sie die Katakomben sehen wollen, gibt es einen der Öffentlichkeit zugänglichen Museumsteil mit absolut angemessenem Eintrittspreis.«
Das Netzwerk aus Tunneln unterhalb der Hauptstadt soll über 300 Kilometer (186 Meilen) umfassen und eine Tiefe von 30 Metern (100 Fuß) erreichen, zu tief für Handyempfang. Einige Gänge sind breit genug, dass zehn Männer nebeneinander gehen können, ohne die Seiten zu berühren, während andere so eng sind, dass diejenigen, die sie betreten, sich bäuchlings voranschlängeln müssen.
Es war eine enge Angelegenheit, und ich will verdammt sein, wenn ich nicht die Schultern einziehen musste, um voranzukommen. Mir kamen jene Filmszenen in den Sinn, in denen man sieht, wie sich jemand durch einen Lüftungsschacht kämpft, nur dass dieser Durchgang hier unberechenbar war und schmutzig und möglicherweise tödlich.
Dann beschrieb er eine Kurve und neigte sich abwärts. Zuerst konnte ich meinen Abstieg kontrollieren. Aber die Neigung fiel plötzlich und steil ab und ich fand mich auf dem Bauch rutschend wieder, ganz so, wie Kinder über eine Wasserplane gleiten. Ich muss irgendwas zwischen viereinhalb und sechs Metern zurückgelegt haben, ehe mich die Reibung verlangsamte. Vor mir sah ich ein Licht, das nicht mein eigenes war. Ich zog mich aus der schmalen Öffnung; meine Rippen schmerzten und ich spuckte Staub aus.
Rob zog mich hoch. »Danke«, sagte ich zu ihm und sah mich um. Der tiefschwarze Tunnel war vielleicht einen Meter zwanzig breit und genauso hoch. Rob stand vornübergebeugt da. Ich musste quasi in die Hocke gehen. Der Gang war links von uns eingebrochen, was ein Durcheinander aus großen Felsen und kleineren Steinen hinterlassen hatte, sodass man nur in eine Richtung gehen konnte. Die Luft roch nach Schimmel und Feuchtigkeit und erinnerte mich an Aquaparks. Es war kühler, als es draußen gewesen war, vielleicht zehn oder fünfzehn Grad.
»Rascal ist schon vorgegangen«, meinte Rob.
»Rascal?«, fragte ich abwesend und wischte mir kalkigen, beigen Schmutz von den Kleidern.
»So nenne ich ihn schon immer. Diesen Chess-Blödsinn hab ich bis heute nie gehört.«
Danièles LED-Lampe blinzelte uns vom Inneren der Öffnung zu und erregte unsere Aufmerksamkeit. Im nächsten Augenblick glitt sie eleganter heraus, als ich es getan hatte. Sie lächelte. »Spaßig, oder?«
»Ein Brüller«, erwiderte ich.
»Gut. Aber ich meine es ernst, wenn ich sage, dass wir alle zusammenbleiben müssen. Ihr dürft nicht herumwandern. Dieser Ort ist nicht wie ein Labyrinth. Er ist ein Labyrinth.«
»Hast du das auch Pascal erzählt?«
»Er wird vorne im stillen Raum sein. Wir sollten zu ihm gehen.«
»Stiller Raum wie stilles Örtchen?«, fragte ich.
»Stimmt was nicht?«
»Vielleicht will er ungestört sein.«
»Sei nicht albern.«
Sie lief gebückt voran. Rob und ich tauschten Blicke und folgten ihr.
Wir fanden Pascal fünfzehn Meter voraus. Ich hatte Danièle missverstanden. Er befand sich nicht an einem »stillen Örtchen« mit einem Klo und Rohrleitungen – natürlich nicht , dachte ich, nicht hier, nicht sechs Meter unter der Erde –, sondern in einem Raum mit gehauenen Kalksteinbänken, wo die Kataphilen offensichtlich eine Ruhepause einlegten, bevor sie sich auf ihre Reise begaben. Die Wände waren glatt und in einem Schweineblutpink getüncht.
Pascal faltete die Karte, die er studiert hatte, zu einem kleinen Viereck zusammen und drängte sich an uns vorbei wieder in den Schacht hinein, führte uns mutig vorwärts.
»Nach dir, Froschling«, sagte Rob zu Danièle.
Sie stieß ihm den Zeigefinger gegen die Brust. »Wenn du mich noch ein einziges Mal Froschling oder Froschi oder irgendwas mit Frosch nennst, bringe ich dich um. Verstehst du mich?« Sie machte auf dem Absatz kehrt und folgte Pascal.
Rob schüttelte den Kopf. »Immer diese angeheiratete Verwandtschaft.«
***
Sich im Gänsemarsch und gebückt wie ein Troll zu bewegen war nicht gerade ideal für Gespräche, also hob ich mir meine Stammbaumfragen an Rob für später auf und konzentrierte mich darauf, mit dem schnellen Tempo, das Pascal vorgab, mitzuhalten. Wegen meiner vornübergebeugten Haltung sah ich nicht viel vom Tunnel, abgesehen von Robs Kehrseite und dem Boden, der ein pulveriger Mix aus Sand und zertretenen Kieseln war.
Ich war volle fünf Minuten hier unten und hasste es. Mein Rücken und mein Nacken schmerzten, Klaustrophobie hatte sich breitgemacht wie eine zu enge zweite Haut und ich freute mich schon jetzt auf das Ende dieser Nacht.
Schließlich betraten wir allerdings einen neuen Schacht. Hier war die Decke höher und zum ersten Mal war es mir möglich, beinahe ganz aufrecht zu stehen. Dadurch ging es mir erheblich besser. Ich hatte mir Sorgen gemacht, dass wir die ganzen neun oder so Stunden, die wir hier unten verbringen sollten, wie die Trolle zurücklegen mussten.
Davon erlöst, auf meine Schuhe zu starren, konnte ich meine Aufmerksamkeit jetzt besser auf das Palimpsest bunter Graffiti, das überall auf die honigfarbenen Steinwände gekritzelt und gesprüht worden war, richten. Das meiste davon waren knallige Hip-Hop-Tags und Punkrock-Anarchiesymbole. Ein englischsprachiges Flehen lautete: »In den Katas verirrt! Hilfe!« In Anbetracht dessen, wie nah wir dem Eingang waren, hielt ich es für einen Scherz. Ich hoffte , dass es ein Scherz war.
Pascal und Danièle waren weiter vorne stehen geblieben. Als Rob und ich sie erreichten, zeigte Danièle auf die linke Wand. Auf einem Eckstein stand eine Inschrift in Kohlenschwarz geschrieben. Sie sagte: »Das ist die Adresse direkt über uns.«
»Wer hat das geschrieben?«, fragte ich.
»L’Inspection Générale des Carriers. Es war ihr Job, dafür zu sorgen, dass Paris nicht absinkt.«
»Paris war am Absinken?«, fragte Rob zweifelnd.
»Genau das hab ich gesagt, Rosbif. Die meisten dieser Tunnel wurden im Mittelalter angelegt. Zu jener Zeit lagen sie außerhalb der Stadtgrenzen. Aber während die Einwohnerzahl wuchs, dehnte sich die Stadt nach Süden über die Tunnel aus. Niemandem war klar, wie schlecht das Fundament war, bis eine der Kammern hier unten einstürzte. Sie verschluckte das gesamte Viertel über sich. Die Hauptstraße hieß Rue d’Enfer. Das ist witzig, denn es bedeutet …«
»… Höllenstraße«, sagte Rob.
»Ja. Jedenfalls rief der damalige König, derjenige, der während der Französischen Revolution geköpft werden sollte, die genannte L’Inspection Générale des Carriers ins Leben, um die Tunnel zu verstärken. Wenn die Inspektoren einen Riss sahen oder ein absinkendes Dach, errichteten sie eine stabilisierende Mauer oder etwas in der Art.« Sie zeigte auf die Inschrift der Adresse. »Sie haben außerdem alles kartografiert. Das Ergebnis war ein Spiegelbild der darüberliegenden Straßen, ein für die Ewigkeit erhaltenes Renaissance-Paris.«
»Existiert diese Straße noch?«, fragte ich.
»Es gibt sie noch, ja, aber sie ist jetzt breiter. Sie wurde zu einer Allee, glaube ich. Und das ist interessant.« Sie zeigte auf die Fleur-de-Lys, die über dem Straßennamen eingeritzt war. »Das ist das Symbol der französischen Monarchie. Hier ist es intakt. An anderen Stellen wurde es von Revolutionären herausgekratzt.«
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