Ich stelle mir vor, wie sie den Arm einfach auf meine Brust fallen lässt und sich neben mich legt, und dann versuche ich schnell, mir etwas anderes vorzustellen, weil das mit dem gleichmäßigen Atmen nun überhaupt nicht mehr funktioniert und ich mir nicht vorstellen will, wie Nadine reagiert, wenn sie das merkt.
Schließlich sucht sie bloß ihre Geldbörse und stellt viel zu schnell fest, dass sich diese definitiv nicht hinter der Couch befindet.
Ich muss nochmal eingeschlafen sein, denn das Nächste, was ich sehe, sind die Rücken von Nadine und Anthony. An meine Couch gelehnt sitzen sie vor dem Bildschirm und spielen Autorennen ohne Ton.
Nadine dreht sich zu mir um. »Guten Morgen!«
»Endlich!« Anthony dreht den Ton auf. »So machts doch gleich viel mehr Spaß.«
Mein Rücken tut weh und ich habe einen komischen Geschmack im Mund. Außerdem muss ich aufs Klo. »Ich geh mal duschen«, sage ich.
Das ist etwas, was ich von Jeremy schnell gelernt habe. Mich immer gleich zuhause zu fühlen oder zumindest so zu tun, als ob.
In der Dusche fällt mir auf, dass jemand in Anthoys Haushalt das gleiche Duschgel benutzt wie Andi blueballoon . Aus dem Wohnzimmer höre ich die Musik düdeln und Nadine fluchen. Dann drehe ich den Duschstrahl auf.
Mit Sandelholzduft im Haar fühle ich mich gleich ein bisschen mutiger. Zurück im Wohnzimmer tippe ich Anthony auf die Schulter. »Kann ich auch mal?«
»Sicher.« Ohne zu zögern drückt er mir den Controller in die Hand, woraufhin sein Fahrzeug prompt von der Strecke fällt und von einer lächelnden Wolke wieder nach oben gebracht wird.
»Doch nicht mitten im Spiel!« Ich versuche, das Beste aus der Situation zu machen, kriege aber den Wagen nicht mehr auf eine gerade Spur, so sehr ich mich auch bemühe. Egal, es gibt noch eine Runde. Und eine nächste. Und übernächste.
Nach diesem Nachmittag weiß ich noch immer nicht viel über Nadine. Ich weiß, dass sie nicht singen kann und verdammt gut Mario Kart spielt. Weiß, dass sie ihre linke Augenbraue heben kann, ohne mit der rechten dasselbe zu tun. Und weil ich Sandelholz im Haar habe, habe ich sie gefragt, ob sie das auch umgekehrt vormachen kann. Rechts heben, links nicht. Konnte sie nicht.
»Und jetzt du«, hat sie mich aufgefordert und mich mit ihrer linken Augenbraue zum Lachen gebracht.
Aber bei mir ist da keine Chance. Nicht mal Jeremy kriegt die Brauen zu unterschiedlichen Zeitpunkten hoch. Da heben sich immer beide.
Gustavo ist aus Spanien und der erste, der tatsächlich so heißt, wie er angegeben hat. Wenn er es ausspricht, klingt es wie ›Gustabo‹. Seine Mitbewohnerin ist gerade nicht da und so darf ich fast eine Woche in ihrem Hochbett schlafen. Dem wahrscheinlich höchsten Hochbett der Stadt, zu dem eine lange Sprossenwand hinaufführt. »You shouldn’t climb up there when you’re drunk«, warnt mich Gustavo scherzhaft.
Schnell schüttle ich den Kopf. »I know I’m Scottish but I don’t drink much.«
»Oh, but a bit you drink, right?«
Ich nicke. »A bit.« Gustavos Englisch klingt lustig, aber soweit ich verstanden habe, spricht er fast überhaupt kein Deutsch.
Gustavo ist erst seit einem halben Jahr hier, dennoch hat er ständig Besuch von unterschiedlichen Leuten, die alle Spanisch sprechen. Sie sind total nett zu mir und laden mich ein, mit ihnen in der Küche zu sitzen und zu trinken. Aber nach zwei Sätzen Englisch wechseln sie wieder ins Spanische.
»I’m sorry«, sage ich, als ich aufstehe, um in mein Zimmer zu gehen.
»I don’t understand a thing.«
»Ah, we are sorry!« Bestürzte Gesichter. »But we don’t manage not to speak Spanish. We’re really sorry!«
»It’s okay«, wehre ich ab. Gustavos Freunde wirken zwar alle sehr sympathisch, aber ich muss sowieso meine Hausaufgaben machen und für die Stundenwiederholung lernen. Da kommt es mir nur gelegen, eine gute Ausrede zu haben.
»When I get home to Glasgow I will do a Spanish course and next time I come here we can talk«, verspreche ich der Gruppe. »Okay?« »You definitely have to come another time«, sagt Gustavo erfreut. »And if not here then you must come to visit me in Spain, promise?« »Promise«, sage ich und verschwinde Richtung Zimmer mit dem höchsten Hochbett der Stadt.
Freitagfrüh fliegt Gustavo auf Urlaub nach Bilbao, wo er herkommt. »You can choose«, sagt er. »You can stay until Thursday. Or you stay until Friday but then you have to leave the flat together with me at five o’clock in the morning. I have an early flight.«
Am Freitagabend kann ich bei OMG it’s me vorbeikommen. Ich bin zu faul, nur für eine Nacht Leute anzuschreiben. Seit HulaHoop bemühe ich mich, wirklich alle Profile genau durchzulesen, und das ist mir gerade zu mühsam.
Also stehe ich am Freitag um halb fünf auf, damit ich eine halbe Stunde später mit Gustavo das Haus verlassen kann.
»Sorry«, sagt er. »I’m really sorry you have to get up so early because of me.«
»No problem«, versichere ich ihm.
»Where are you going now?«, will er wissen.
»Not sure. Can I take you to the airport?«
Ich begleite Gustavo zum Check-in und zum Eingang zur Security und winke ihm nach, bis ich ihn nicht mehr sehe.
Tue genau das Gleiche wie die Leute neben mir auch.
An jedem anderen Freitag müsste ich jetzt in die Schule fahren. Heute nicht, unsere Schule hat uns einen schulautonomen Tag spendiert. An jedem anderen Freitag hätte ich mich darüber gefreut. Hätte lang geschlafen, wäre rüber zu Lukas, irgendwelche Games spielen.
Diesmal fühlt es sich anders an. Der ganze Tag liegt vor mir und will gefüllt werden. Nur womit?
In der Schule hätte ich wenigstens etwas zu tun und warm wäre es auch.
Egal, Jeremy findet sich schon was. Ich spaziere durch das Flughafengebäude und beschließe, mir ein Frühstück zu gönnen. Im Terminal 1 setze ich mich in ein Café und studiere die Karte, in der der Unterschied zwischen den verschiedenen Wiener Kaffeesorten genau erklärt wird. Das meiste davon ist auch für mich neu. Schließlich entscheide ich mich für einen Franziskaner, einen kleinen schwarzen Kaffee mit viel Milch, Schlagobershaube und Schokopulver.
Danach streife wieder durch das Flughafengelände, aber irgendwann wird das langweilig. Mit einem Seufzer lasse ich mich auf eine der Sitzgelegenheiten sinken, so richtig bequem sind die jedoch nicht. Ich könnte wieder nach Wien reinfahren, überlege ich. Aber dann wohin? Wenn es warm wäre, könnte ich mich in einen Park legen, aber obwohl die Sonne scheint, merkt man der Luft an, dass es Ende Oktober ist. Ich sehe auf die Uhr. Noch sieben Stunden, bis ich zu OMG it’s me kann.
Ich merke, wie ich langsam grantig werde. Ich bin müde und meine linke Schulter tut weh, vermutlich vom langen Rucksackschleppen. Was für eine blöde Idee, die Nacht auf heute noch bei Gustavo zu bleiben. Das habe ich jetzt davon, dass ich zu faul war, mir einen host für eine Nacht zu organisieren. Ich schaue auf die Uhr. Noch immer sieben Stunden, die Zeit zieht sich wie in der schlimmsten Schulstunde nicht.
So soll es nicht sein, so war das nicht gedacht. Jeremy soll Spaß haben in dieser fremden Stadt und nicht blöd herumwarten an Orten wie diesen.
Ein kleines Kind stellt sich vor mich und sieht mich mit offenem Mund und großen Augen an. Genervt drehe ich mich weg. Nur weil es süß schauen kann, braucht es nicht zu glauben, dass ich jetzt lächle.
Aber plötzlich ist mein Grant wie weggeblasen und es hat nichts mit dem Kind zu tun. Sondern damit, dass ich eine Idee habe, wo ich den Nachmittag verbringen könnte. An einem Ort, der mich an meine Kindheit erinnert. Wo es Betten gibt, in die ich mich legen kann. Und Fleischbällchen. Und Kartoffelpüree. Und Mandeltorte.
Читать дальше