»Süß«, sage ich, obwohl ich das nicht mal ansatzweise süß finde.
Dann klingelt mein Telefon und rettet mich vor weiteren unangenehmen Fragen. Meine Mutter. Endlich. Ich dachte schon, die meldet sich nie. Schnell mache ich die Wohnungstür auf und setze mich auf ein Fenstersims am Gang.
Tief durchatmen. »Hallo?«
»Hallo. Wo bist du?«
»Das weißt du doch.«
Schweigen.
Es ist komisch. Das Schlimmste, was ich meiner Mutter erzählen kann, ist, dass ich bei meinem Vater leben will. Gleichzeitig ist es das Einzige, das sie akzeptiert. Weil sie weiß, dass sie es akzeptieren muss.
»Ich dachte, du bist vielleicht nur bei Lukas.«
»Nein, bin ich nicht.« Das stimmt sogar.
Schweigen.
»Ist das jetzt deine Rache, oder was?«
»Das hat nichts mit Rache zu tun«, sage ich, so ruhig ich kann. »Ich will einfach ein bisschen Zeit mit meinem Erzeuger verbringen. Das ist mein gutes Recht.«
»Und er will das auch?« Ihre Stimme klingt belegt.
»Ja«, sage ich und bemühe mich, meine Stimme fest klingen zu lassen. »Ja, das will er.«
»Na dann«, sagt sie. Und gleich darauf: »Morgen ist Sonntag.«
»Ich weiß.«
»Willst du morgen zum Mittagessen kommen?«
»Ähm … Mama … also …«
»Es gibt Gulasch.«
»Aha.«
»Ich würd mich wirklich freuen«
Sie tut mir leid. Dabei habe ich mir doch geschworen, dass sie mir nie wieder leidtun wird. Ich seufze. »In Ordnung.«
Komme ich eben zum Sonntagsessen. Das macht man doch so, oder? Es gibt genug Kinder, die manchmal hier, manchmal dort wohnen. Mal bei Mama, mal bei Papa. Ich weiß auch nicht, wieso ich nicht früher auf diese Idee gekommen bin.
Natürlich weiß ich, warum ich nicht auf diese Idee gekommen bin. Weil es nicht geht. Aber das muss meine Mutter nicht wissen.
Bevor ich wieder reingehe, checke ich noch schnell den Namen der britischen Millionenshow.
» Who wants to be a millionaire? heißt die übrigens bei uns«, sage ich beiläufig zu Tom und setze mich neben ihn auf die Couch. »Die Sendung wurde aber 2014 eingestellt.«
»Warum denn das?«
Ich zucke die Achseln. »Keine Ahnung. Schlechte Quoten vielleicht oder wieder irgendein Skandal. 2001 gab es schon einmal einen.« Und dann erzähle ich ihm die Geschichte, wie einem Kandidaten der Hauptgewinn nachträglich aberkannt wurde, weil er sich mit Freunden im Publikum Signale ausgemacht hatte, die ihm die richtige Antwort zeigten.
»Krass«, sagt Tom.
Ich nicke wissend. Danke Wikipedia.
Äußere Mariahilfer Straße
Am nächsten Tag stehe ich vor dem Technischen Museum. Von außen sieht es gar nicht so schlecht aus. Hier war ich noch nie. Gefällt mir irgendwie. Jugendliche unter 19 zahlen keinen Eintritt. Super. Sonst wäre ich wieder gegangen.
Kurz sehe ich mir die Dampfmaschinen an und mache eine Runde in jedem Stockwerk des Museums, damit ich Tom ausreichend davon erzählen kann. Dann setze ich mich in eine Ecke und packe Dorian Gray aus. Bis morgen muss ich das durchhaben.
Zum Mittagessen bin ich bei meiner Mutter. Später als üblich, weil ich es vom Museum nicht schnell genug her geschafft habe. Viel später als üblich, eigentlich ist es schon längst nicht mehr Mittag. Ich wundere mich, dass Mart sich deswegen nicht aufregt. Wir essen Gulasch und schweigen uns an.
»Dann brauchen wir dir also kein Taschengeld mehr zu geben«, sagt Mart schließlich. »Das bekommst du ja jetzt von deinem Vater.«
Ich wusste es. Wusste es wusste es wusste es. Dass ihm das als Erstes einfällt. Verdammt.
»Darüber haben wir noch gar nicht geredet«, sage ich.
Mart lacht auf. »Das sieht ihm ähnlich. Ein Kind in die Welt setzen kann er, aber zahlen darf ich.«
»Wir haben noch nicht darüber geredet«, wiederhole ich. »Werden wir schon noch tun.«
Meine Mutter verschränkt die Arme vor der Brust und sieht mich lange an. Ich spüre einen Stich in der Brust und sehe zur Seite. Ich könnte nicht sagen, was sie denkt.
»Mach das«, sagt sie nur.
Es ist nicht so, dass Mart mich nicht mag. Er mag mich und er mag meine Mutter und ich kann mir auch nicht vorstellen, wie wir ohne ihn gelebt hätten, schließlich hat er uns aus dem Übergangswohnheim rausgeholt.
Mart ist kein schlechter Mensch. Schlechte Menschen schlagen ihre Familie, sperren sie in den Keller oder verlassen sie dann, wenn sie am dringendsten gebraucht werden. So wie mein Vater. Dem man nur zugutehalten kann, dass er uns weder geschlagen noch in den Keller gesperrt hat, sondern sich damit begnügte, abzuhauen und uns im Regen stehen zu lassen.
Ich weiß auch nicht, ob mein Vater ein schlechter Mensch ist. Vielleicht hat er einfach nicht nachgedacht, was sein mehrjähriger Selbstfindungstrip nach Südostasien für meine Mutter bedeutete. Nämlich, dass ihr Geld für die Miete nicht mehr reichte.
Und irgendwann drückt keiner mehr ein Auge zu. Irgendwann stehen sie vor deiner Tür und delogieren dich. Wir hatten riesiges Glück, denn das Ganze hätte uns schließlich auch im Winter passieren können.
Was genau passiert ist, weiß ich nicht, weil meine Mutter nicht viel erzählt. Erinnern kann ich mich nicht, und Bilder gibt es auch keine. Von so etwas machst du keine Fotos. Du willst auch nie wieder mit demjenigen sprechen, der das Ganze verursacht hat. Verständlicherweise wollte sie nicht warten, bis er sich selbst gefunden hat. Stattdessen suchte sie sich einen anderen. Leider war das Mart.
Aber nein, Mart ist kein schlechter Mensch. Er hat uns ein Dach über dem Kopf gegeben, meiner Mutter Arbeit und mir eine Familie. Wir können uns nicht beklagen.
Aber es ist sein Dach, seine Arbeit, seine Familie. Wir können uns nicht beklagen. Keine Chance.
Er muss es nicht sagen, weil es von Anfang an klar war: Wenn wir uns falsch verhalten, sind wir draußen.
Meine Mutter hat ihr Leben daraufhin ausgerichtet, nicht mehr draußen zu sein.
Ich bin da anders.
Nach dem Essen laufe ich die Stufen hinauf in mein Zimmer. Stopfe frische Unterwäsche und ein paar T-Shirts in meinen Rucksack. Zu viel kann ich nicht tragen und Tom hat gesagt, dass ich bei ihm waschen kann.
Jetzt noch das Handtuch aus dem Badezimmer und wieder raus hier.
Die Englischschularbeit schreibe ich mit links, meine Wäsche wird bei Tom Turbo sauber und dann trocken und ab Mittwoch kann ich für einige Tage bei HulaHoop wohnen, die in Wirklichkeit Barbara und Vera heißen.
Ich bin ein bisschen nervös, als ich auf den Platz zusteuere, an dem die beiden wohnen. In diesem Teil Wiens war ich noch nie und die Adresse klingt fremd für einen wie mich, der Tannengassen und Kastanienalleen gewöhnt ist.
Ich sehe mich um. Eine Schule, ein kleiner Park mit Kinderspielplatz und die angrenzende Weinbergstraße führt im Frühling wohl ins Grüne. Es gibt nichts zu fürchten hier. Auch nicht die Tatsache, dass ich nicht weiß, wie ich mich in dieser WG verhalten soll, in die ich hier gleich für ein paar Tage einziehen werde. Denn Jeremy hat solche Sorgen nicht. Der streckt einfach die Hand aus und läutet an dem Klingelschild, an dem kein Name steht.
Vera holt mich unten ab und bietet mir an, meinen Rucksack hinaufzutragen.
»Das geht schon, thanks«, wehre ich ab.
Als ich die Wohnung betrete, muss ich niesen. Vera hält sich erschrocken die Hand vor den Mund. »Oh nein, wir haben dir gar nicht gesagt, dass wir Meerschweinchen haben. Bist du allergisch?« »I don’t think so. Ich muss wegen was anderem geniest haben.«
Vera atmet erleichtert auf. »Sorry. Also es steht eh auf unserem Profil, aber wir haben’s in der Nachricht an dich dann nicht nochmal erwähnt. Vergess ich immer. Wir hatten schon mal einen Allergiker hier, der musste sich dann was anderes suchen.«
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