»Deshalb sollte man sich die Profile auch gut durchlesen. Schließlich schreibt man ja nicht irgendwen an, sondern nur Leute, zu denen man auch irgendwie passt, oder?« Das habe ich in den FAQ gelesen. Dass man versuchen soll, den Leuten zu erklären, warum man ausgerechnet zu ihnen will. Dazu sollte man ziemlich genau wissen, was sie so über sich schreiben. Nicht, dass ich das gemacht habe.
Noch nie war ich so froh, bloß eine Allergie auf Hausstaub zu haben, die so leicht ist, dass ich sie meistens nur daran merke, dass sich mir im Liegen ein Nasenloch verlegt, wenn länger nicht gesaugt wurde. Der Staub ist es hier wohl auch, der mich noch einmal zum Niesen bringt. HulaHoop scheinen nicht die größten Putzfans zu sein.
Vera öffnet mir die Tür zu meinem Zimmer. »Wenn du unser Profil gelesen hast, dann weißt du ja eh, dass du im Meerschweinchenzimmer schläfst.
Ich nicke. »Of course weiß ich das«, lüge ich.
Ich gebe diesmal ganz ehrlich zu, schon länger in Wien zu sein, und erzähle keine München-Autostopp-Geschichte. Den Fehler mache ich nicht nochmal. Können ja alle sehen, bei wem ich davor gewohnt habe.
Es ist seltsam, das Zimmer mit Meerschweinchen zu teilen. Ständig raschelt es und manchmal ertönt leises Quieken. Nicht, dass es mich stört, ich habe einen ziemlich guten Schlaf. Aber komisch ist es schon. Was die wohl denken, wer ich bin? Ob die überhaupt denken? Keine Ahnung, wie das bei Meerschweinchen so ist.
Vera macht eine Ausbildung in einer Bank und Barbara jobbt gerade beim McDonald’s im McCafé. Spätabends bringt sie immer Kuchen und Donuts mit, die übrig geblieben sind.
»Greif zu«, sagt sie. »Morgen gibt es neue.«
Ich habe schon lange nicht mehr so viel Süßes auf einmal gegessen.
Es ist nicht schwer, Zeit zu finden, um unbemerkt meine Hausaufgaben zu machen. Vera ist untertags nie da und Barbara meistens auch schon weg, wenn ich heimkomme. Außerdem scheint es den beiden ziemlich egal zu sein, was ich mache. Sie haben nicht viele Fragen gestellt.
Jeden Abend lüfte ich lange, auch auf die Gefahr hin, dass die Meerschweinchen frieren. Ich stehe mit Jacke und Haube am offenen Fenster und sehe zum Kinderspielplatz, auf dem bei dieser Kälte keine Kinder spielen. Betrachte den Wohnungsschlüssel, der silbern glänzend in meiner Hand liegt. Kurz durchfährt mich die Angst, er könnte mir aus der Hand rutschen und aus dem Fenster fallen. Schnell stecke ich ihn in die Hosentasche.
Mit meiner Mutter habe ich ausgemacht, dass ich jeden Sonntag zum Essen komme. Ist okay für mich.
Von HulaHoops Wohnung aus habe ich verschiedene Möglichkeiten, in die Schule zu fahren. Am liebsten ist mir die, bei der ich für einige Haltestellen die Vorortelinie benutze, von der ich bislang nicht wusste, dass es sie gibt. Einmal kurz nachschlagen sagt mir, dass die meisten Bahnhöfe dieser Linie unter Denkmalschutz stehen, was Jeremy dazu bringt, einmal die gesamte Strecke abzufahren und Fotos zu machen.
Vielleicht sollte ich einen Fotokurs machen. Irgendwann, wenn ich mehr Zeit habe.
Mit beschwingten Schritten mache ich mich auf den Schulweg, aber sobald ich durchs Schultor gehe, bin ich wieder Jakob. Jakob und sonst niemand.
»Anthony macht ’ne Party«, sagt Lukas und schmeißt seinen Rucksack auf den Sessel neben mir.
»Gehst du hin?«
»Wann?«
»Diesen Samstag.«
»Diesen Samstag?« Diese zwei Wörter reichen, um Jeremy in mir zumindest kurz aufflackern zu lassen.
Lukas sieht mich verwundert an. »Was grinst du denn so?«
Mir war nicht bewusst, dass mein inneres Grinsen tatsächlich bis in meine Mundwinkel gewandert ist. »Ach nichts«, sage ich schnell und bemühe mich, wieder ernst dreinzuschauen.
Jeremy. Ist. Ein. Glückspilz. Bei HulaHoop muss ich am Samstag raus und Gustavo hat erst ab Sonntag Zeit. Für die Nacht von Samstag auf Sonntag habe ich zwar schon Anfragen geschickt, aber noch keine Zusagen erhalten. Hat sich dieses Problem also quasi von selbst gelöst. Nach der Party kann ich sicher bei Anthony schlafen.
»Ich komm fix«, sage ich also.
Am Samstag bin ich schon um sieben bei Anthony.
»Stell dein Zeugs einfach zu meinen Eltern ins Zimmer«, bietet er mir an. »Da kotzt dir sicher niemand drauf.«
Ich hieve meinen Rucksack von den Schultern und stelle ihn neben das Doppelbett auf den Boden, dann folge ich Anthony in die Küche. Er grinst. »Erzähl mal!«
»Gibt nix zu erzählen.«
»Natürlich«, sagt Anthony ironisch. »Wenn du schon zu früh auf meiner Party auftauchst, dann musst du mir auch die Zeit vertreiben, bis die Bowle fertig ist.«
»Ich wollt ja gar nicht so früh kommen«, verteidige ich mich.
»Aber?« Anthony sieht mich fragend an.
Ich zucke mit den Schultern. »Nix aber.«
»Hm.« Anthony dreht mir den Rücken zu und schnippelt Apfelstücke. »Lukas hat da so was erwähnt.«
»Lukas? Was hat der denn erzählt?« Ich versuche, ruhig zu klingen, aber mein Herz beginnt zu klopfen und meine Handflächen zu schwitzen. Was zum Teufel hat Lukas erzählt?
Anthony dreht sich zu mir und grinst mich an. »Willst du?« Er hält mir eine Apfelspalte entgegen, die ich geistesabwesend nehme und mir in den Mund schiebe. »Sag schon, was hat Lukas gesagt?«
Anthony grinst noch breiter. »Eh nix«, sagt er. »Aber so, wie du reagierst, gibt es irgendwas, das er erzählen hätte sollen.«
Ich atme hörbar aus. Anthony weiß gar nichts. Mein Herzschlag beruhigt sich. Gleichzeitig bin ich enttäuscht. In Anthonys Augen bin ich wohl tatsächlich nur der kleine Jakob, der zwei Stunden zu früh bei einer Party auftaucht und nicht besonders interessant ist. Ich beginne wortlos, Bananen und Orangen in kleine Stücke zu schneiden und in die Bowlenschüssel zu werfen. Auch Anthony sagt nichts mehr.
Mir fällt ein, dass ich meiner Mutter für morgen absagen muss. Ganz wohl fühle ich mich dabei nicht. Wäre schließlich gerade erst das zweite Sonntagsessen mit ihr. Aber ich nehme an, dass die Party lange dauern wird und ich danach erst mal ausschlafen muss. Da schaffe ich es vermutlich nicht, zu Mittag zum Essen zu kommen.
Wir machen morgen einen Ausflug, Sonntagsessen also diesmal ohne mich , schreibe ich. Wer ›wir‹ sind, lasse ich offen.
Schade , kommt gleich darauf zurück. Ich wünsch dir aber einen schönen Ausflug mein Großer .
Mein Großer . So hat sie mich noch nie genannt. Fühlt sich komisch an. Schnell packe ich mein Handy wieder weg.
Ich bin froh, als Lukas da ist. Er ist nach mir der Erste, der kommt. Mit dem letzten Bus, der aus unserer Siedlung in die Stadt fährt.
Bei uns draußen gibt es nur ein Lokal, das ›Malibu‹. Dort kannst du Darts spielen oder einarmiger Bandit und dir die Birne wegsaufen. Am Nebentisch sitzt wahrscheinlich deine Nachbarin, und der Opa deines Volksschulfreundes greift der Kellnerin an den Hintern. Das Malibu verbindet die Generationen.
Lukas und ich, wir waren die von der Tankstelle. Trostlos, ich weiß. Aber bevor wir uns ins Malibu setzen, stehen wir lieber vor den Zapfsäulen und trinken Dosenbier. Die Abende an der Tankstelle waren zwar nicht der Hammer, aber besser als nichts. Marcel hat die Schule abgebrochen und jobbt jetzt dort. Marcel ist okay. Zwar nicht der Hellste, aber noch immer besser als die Typen im Malibu.
Langsam trudeln weitere Leute ein und bald ist es ziemlich voll. Anthony mag alle und alle mögen Anthony. Er ist gut darin, Leute zusammenzubringen. Egal welche.
Anthony ist der perfekte Gastgeber und ständig woanders. Ich stehe mit Lukas im Türrahmen zum Wohnzimmer und fische die Früchte aus meinem Bowlenglas. Eigentlich mag ich Bowle nicht. Ist mir zu süß. Ich suche nach einem Ort, wo ich den vollen Becher unauffällig abstellen kann. Dann überlege ich es mir anders und kippe den Inhalt in einem runter. Wohin ich den Becher stellen soll, weiß ich dann aber immer noch nicht.
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