Anfang 2020 kam es im Markt zu einem Lieferengpass für Epirubicin. Das Medikament war nicht mehr zu besorgen. Epirubicin ist ein relativ günstiges, schon lange bekanntes Zytostatikum, das unter anderem bei Brustkrebs eingesetzt wird. Ein Anruf bei einem der wenigen noch verbliebenen großen deutschen Hersteller ergab: Es sei noch genügend Ware vorhanden, aber in Deutschland könne erst in drei Monaten wieder geliefert werden – der Rest gehe ins europäische Ausland. Subtext: Dort verdienen wir mehr.
Jetzt werden sich Krankenkassenmitarbeiter fragen: Was hat das mit unseren Rabattverträgen zu tun? Nun, der Fall zeigt das Wirken unseres Wirtschaftssystems und die zu lernende Lektion lautet: Die Regeln dieses Systems kann man nicht ungestraft über einen längeren Zeitraum missachten. Epirubicin steht hier exemplarisch für das Entstehen von Lieferengpässen im generischen Bereich. Denn anders als bei den geheim gehaltenen Abschlägen auf die Listenpreise durch die Rabattverträge bei der normalen Generikaversorgung sind die Zahlen bei der Abrechnung hergestellter Krebsinfusionen weitgehend bekannt. Für Epirubicin müssen die herstellenden Apotheken den GKV-Krankenkassen 83,7 Prozent Rabatt gewähren. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass sie die Ware mindestens mit einem derartigen Rabatt einkaufen müssen, was nur für die Herstellung patientenindividueller Infusionen zur Krebsbehandlung auch gesetzlich möglich ist.
Kleine Preise, wenig Ware
Da die den Apotheken bezahlte Herstellerpauschale für die Zubereitung dieser Infusionen zu niedrig angesetzt wurde (wie in Spiel zwei zu »Verwürfen« geschildert), muss die Apotheke, um mindestens kostendeckend zu arbeiten, am Arzneimittel etwas mitverdienen, der tatsächliche Einkaufspreis also noch niedriger liegen. Zu diesen ohnehin schon schlechten Bedingungen kommt hinzu, dass der Hersteller noch den Herstellerrabatt an die Krankenkassen zahlen muss.
Dabei sollte er am Ende des Tages seine Leistung (Wirkstoff, Herstellung, Vertrieb und Bereitstellung) inklusive eines kleinen Gewinns ausreichend vergütet bekommen haben. Ob das funktioniert?
Wohl nicht. Denn in der Marktwirtschaft ist tatsächlich der Gewinn die entscheidende Motivation. Ohne Gewinn wird nicht mehr produziert. Ohne ausreichend Gewinn wird die Produktion in Billiglohnländer ausgelagert oder die produzierte Ware schlicht in andere Länder verkauft. Kann also ein Hersteller seine Ware in Märkte liefern, in denen er besser verdient, liegt die Entscheidung auf der Hand: Er wird sich für die höchste Gewinnspanne entscheiden – und dort zuerst beliefern.
Das wiederum kann zu Lieferengpässen in Ländern mit niedrigeren Erstattungspreisen führen – wie im Fall von Deutschland. Denn wenn Rabattverträge wie Ausschreibungen gehandhabt werden, führt das immer zu sehr niedrigen Preisen. Und wenn die produzierte Menge nicht ausreicht, weil sich zum Beispiel andere Hersteller aus dem Preiswettbewerb zurückgezogen haben oder weil im Wirkstoff Verunreinigungen gefunden wurden, fällt die Versorgung des Marktes mit dem niedrigsten Preisangebot als Erstes aus. Auch dann ist Deutschland schnell dabei.
Daran ändern auch Rechenexempel der Krankenkassen mit Umsatzanteilen des deutschen Marktes am Weltmarkt nichts. Gibt es nicht genügend Packungen, spielt der Umsatz eine untergeordnete Rolle. Zuerst kommt der Gewinn und dann der Umsatz. Das gilt leider auch für das besondere Gut Arzneimittel. Als verbindendes Glied zwischen Lieferengpässen und Rabattverträgen erweist sich also der Profit. Medikamenten-Monopoly eben.
Warum oft die Verpackung entscheidet und nicht der Inhalt
Auch Re- und Parallelimporteure haben erkannt, wie sich Preisunterschiede in europäischen Ländern geschickt ausnutzen lassen. Zur Erklärung: Reimporteure und Parallelimporteure produzieren keine Arzneimittel, sondern packen sie nur um. Sie helfen daher nicht direkt bei der Versorgung, sondern verschieben höchstens einen Lieferengpass von einem Land in das nächste und verdienen daran mit.
Was sind Parallel- und Reimporte?
■ Mit dem Begriff Parallel- und Reimporte (im Folgenden kurz Reimporte genannt) werden Arzneimittel bezeichnet, die vom Hersteller für einen ausländischen Markt bestimmt und entsprechend verpackt worden sind, dort aber nicht zum Patienten gelangen, sondern von speziellen Importhändlern aufgekauft und in Deutschland auf den Markt gebracht werden. Da das Originalprodukt in Deutschland bereits eine Zulassung hat, ist für die reimportierten Medikamente ein vereinfachtes oder – wenn europaweit bereits zugelassen – kein Zulassungsverfahren notwendig. Der Importeur muss lediglich die fremdsprachigen Beschriftungen auf der Packung und die Beipackzettel durch deutschsprachige ersetzen, die Durchdrückpackung kann unverändert bleiben. Der wirtschaftliche Anreiz für den Reimport wird durch internationale Preisdifferenzen geschaffen. Dadurch ist es möglich, ein Arzneimittel zu einem niedrigen Preis im Ausland zu erwerben und zum Beispiel in Deutschland zu einem höheren Preis zu verkaufen. Der umgekehrte Weg ist genauso möglich.
Das Fell des ahnungslosen Patienten
Inzwischen hat sich das Problem der Lieferengpässe, auch durch Mitwirkung dieser Importeure, auf viele Länder Europas ausgedehnt. Nach einer Umfrage des europäischen Apothekerverbands (PGEU) in 24 Ländern Europas, insbesondere Ost- und Südosteuropas als von Parallelexporten besonders betroffenen Ländern, ergab sich 2019 ein eindeutiges Bild in Sachen Lieferengpässe. Die überwiegende Mehrheit der Befragten gab an, dass sich die Situation im Vergleich zu 2018 verschlechtert habe. Von den Verknappungen waren durchgehend alle Arzneimittelklassen betroffen. Vor allem Medikamente im Bereich Atemwege (87 Prozent), gefolgt von Herz-Kreislauf-Präparaten, die in mehr als 80 Prozent der Länder knapp waren. Insgesamt gesehen waren in jedem Land mindestens 200 Arzneimittel Mangelware, in manchen waren sogar 400 Arzneimittel nicht ausreichend verfügbar. Erscheint das Geschäftsmodell moralisch auch sehr bedenklich, ist es doch legaler Bestandteil des laufenden Medikamenten-Monopolys.
Inzwischen haben manche Länder bereits Exportverbote für ihre eigenen Arzneimittel erlassen, um so Lieferengpässen vorzubeugen. Auch in Deutschland wurde bereits über ein Exportverbot nachgedacht, was wiederum in Ländern wie der Schweiz, die ihrerseits viele Medikamente aus Deutschland importiert, bereits Befürchtungen auslöste. Angesichts solcher Meldungen ist unschwer zu erkennen, dass das Wirken der Re- und Parallelimporteure unter dem Strich nicht wirklich problemlösend ist. Allerdings beteiligen sich auch die Vollsortimenter-Großhandlungen sowie Apotheken, die über eine Großhandelserlaubnis verfügen, an diesen Verschiebegeschäften. Gerade bei Originalpräparaten werden erhebliche Teile der von den Originalherstellern für Deutschland zur Verfügung gestellten Ware in andere europäische Länder exportiert – wenn die Gewinnmarge stimmt.
Der Handel richtet sich eben immer nach Angebot und Nachfrage, auch bei Arzneimitteln. Auch hier tobt wieder der Streit um das Fell des ahnungslosen Patienten – dessen Ahnungslosigkeit im Übrigen auch zum Problem wird.
Gerüchte und gezielte Falschinformationen
Lange vor Corona war das erstaunliche Phänomen zu beobachten: Eine gelungene Werbekampagne zur rechten Zeit – ein schönes Beispiel bleibt das »Abnehmen im Frühjahr« – und schon waren Produkte nicht mehr zu bekommen. Ging es in der Vergangenheit um harmlose, freiverkäufliche Produkte wie Kohlkapseln oder Ähnliches, hat sich inzwischen das »Hamstern« auch auf ernsthaft benötigte und zum Teil verschreibungspflichtige Arzneimittel ausgedehnt. Und erneut spielen die sozialen Medien eine besonders in Zeiten der Verunsicherung unrühmliche Rolle.
Postet jemand auf Twitter, dass man Coronaviren durch Gurgeln mit Wasserstoffperoxid abtöten kann, ist diese Chemikalie zwei Tage später nicht mehr zu bekommen. Das ist problematisch, weil Wasserstoffperoxid zur Herstellung von Desinfektionsmitteln gebraucht wird und sich tatsächlich nur bedingt zum Gurgeln eignet. Anderes Beispiel: Liefert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein nur halb gares Dementi zu einem Bericht über die angeblichen Vorteile von Paracetamol gegenüber Ibuprofen, sind wenige Tage später keine Paracetamol-Säfte mehr für fiebernde Kinder zu bekommen. Diese Fehlmeldungen und Gerüchte, diese sich rasant verbreitenden Falschmeldungen erweisen sich inzwischen als handfestes Problem.
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