Da ist die Gebärmutter, ein dunkler Tunnel, und an seinem Ende sieht man in blutigen Fleischfalten einen kleinen gelblichen Tropfen, der perlengleich hinuntergleitet und durch den Tunnel fällt, kurz darauf beginnen die fleischigen Wände sich vor Kummer zu schuppen, blutige Plättchen lösen sich und verwandeln sich in unzählige klebrige Blutstropfen. Das Herz – ein monströses Gebilde aus fleischigen Bändern, elastisch und gummiartig. Der Rhythmus, in dem es sich bewegt, ist der Rhythmus der Kopulation. Jeder Takt gebiert einen Augenblick, der sofort stirbt. Ein kleines farbloses Bläschen, das platzt, bevor man es betrachten kann.
Man sollte einfach aus den sterilen Räumen hinaus auf die Straße gehen und rufen: Traut keinen Ärzten! Glaubt nicht, dass auch nur einer von ihnen irgendwann etwas Wesentliches sagen wird. Seht euch vor, ihr Wissen ist ein Scheinwissen, und in Wirklichkeit erinnert es an ein einfältiges Spiel, es geht nur darum, im geeigneten Moment den Blick von den Papieren oder dem an den fremden Körper gepressten Stethoskop zu heben und in Sekundenbruchteilen die Kontrolle zu übernehmen: Ich weiß über deinen Körper etwas, was du nicht weißt; obwohl ich nicht du bin, weiß ich etwas, dessen du dir nicht bewusst bist. Was uns unterscheidet, ist Wissen. Ich weiß, denn ich bin nicht du. Du kannst nichts über dich wissen, denn man kann nur etwas erkennen, was man nicht selbst ist. So sieht das aus. Ja, du hast einen Körper, aber du weißt nichts darüber. Ich weiß alles darüber, denn er ist genauso wie andere Körper, die ich schon lange erkannt habe, indem ich sie von oben bis unten abgetastet habe, in ihr Inneres geschaut habe, sie in meiner Vorstellung in kleine Stücke geschnitten habe, damit sich nichts vor mir verbergen kann. Mich überrascht nichts. Im Wesentlichen sind Körper einfache hydraulische Apparate. Erkennen und Handeln – ein paar ausgestellte Rezepte und Überweisungen zu weiteren Untersuchungen. Weiterreichen des Körpers an andere, die auch so tun, als wüssten sie besser Bescheid.
Sie liegt bequem auf dem Bett ausgestreckt, wartet darauf, dass die an ihre Brüste und Füße angeschlossenen Elektroden die inneren Rhythmen und Spannungen erspüren und sie dann in ein paar symbolische Linien verwandeln, die tintenspuckende Drucker zu einem bewegenden Panorama des Herzens aufs Papier zeichnen. Doch was kann Ida ihnen über ihre Beschwerde sagen? »Herr Doktor, mein Herz hört auf zu schlagen und bleibt minutenlang stehen, deshalb bin ich auf wundersame Weise tot und kehre auf andere wundersame Weise wieder ins Leben zurück. Wenn mein Herz nicht schlägt, tritt eine schreckliche Stille ein. So etwas haben Sie noch nie gehört. Sie ist mächtig, sie muss aus der Tiefe der Erde kommen, sie steigt an die Oberfläche empor wie der Kopf eines vorsintflutlichen Ungeheuers, schaut sich um und gleitet dann dahin zurück, woher sie gekommen ist. Das Herz setzt sich mit einem Reißen, Krampfen, sekundenlangen Beben in Bewegung, und – um es technisch auszudrücken – der Motor springt an. Ein kleiner Tod.«
Der Doktor verkündet:
»Sie haben eine Tachykardie, das ist nichts Gefährliches, wahrscheinlich haben Sie als Kind öfter Angina gehabt.«
»Die Russen haben eine Verkleinerungsform für das Wort ›Tod‹«, sagt Olga, als Ida wieder in die Küche kommt. »Smiert’ka. Kleine Tiere sterben kleine Tödchen.«
Sie lächelt und kniet sich vor die Kiste mit Ina. Ihr schweigsamer Mann hat Holz im Herd nachgelegt, dann ist er ganz leise hinausgegangen. Ida wird erst jetzt bewusst, dass Olga mit östlichem Akzent spricht, mit Lemberger oder Wilnaer Akzent, das kann sie nicht genau erkennen. Wie ihre Eltern, nur ein bisschen anders.
»Auf Polnisch hört sich das nicht gut an – ›Tödchen‹.« Ida sieht, wie die Alte mit ihren knotigen Fingern Inas schwarzes Fell teilt und eine Stelle sucht, wo sie die Spritze setzen kann.
»Schauen Sie nicht so«, sagt Olga. »Ich muss ihr die Spritze setzen, weil sie leidet. Adrian sagt, man soll ihnen Schmerzmittel gönnen.«
»Sieht man, dass sie leidet? Woran erkennen Sie, dass sie Schmerzen hat?«
»Am Atem«, sagt Olga. »Sehen Sie, wie schnell und unregelmäßig er geht. Wenn das Medikament aufhört zu wirken, stöhnt sie. Das ist genauso wie bei einem Menschen, warum sollte es auch anders sein? Bitte, gießen Sie sich Kaffee auf, das Wasser kocht schon lange.«
Ida gießt heißes Wasser in den Becher. Auf der Oberfläche bildet sich eine braune Haut.
»Haben Sie nicht erwogen, sie einzuschläfern?«
Olga gibt keine Antwort. Ihre knochigen, arthritischen Finger drücken auf den Kolben der Spritze, um die Luft zu entfernen. Dann verschwindet die Nadel in dem schwarzen Fell. Der weiße Hund steht neben dem Korb und sieht beim Spritzen zu, wie ein Spezialist im weißen Kittel, der begutachtet, wie die Spritze gesetzt wird. Die Frau erhebt sich mit Mühe vom Boden, legt die Spritze auf die Fensterbank und schaut Ida an.
»Wie geht es Ihnen? Besser?«
»O ja, unvergleichlich. Es ist schon wieder alles in Ordnung. Ich muss jetzt bei der Polizei anrufen, und bei meinen Freunden, dass mir nichts passiert ist, dann mache ich mich auf den Weg. Vielen Dank für alles. Kann ich das Telefon benutzen?«
Ida schaut auf das Telefon, das neben der Kredenz an der Wand hängt, und ihr wird klar, dass vielleicht niemand ihr Verschwinden bemerkt hat. Höchstens Ingrid wird ihr eine Nachricht auf dem Mobiltelefon hinterlassen haben. Ach ja, das hat sie bestimmt im Auto vergessen.
»Sicher, rufen Sie nur an«, sagt Olga und macht sich daran, die Grütze in einem der Töpfe umzurühren.
Ida gibt einen gehäuften Löffel Zucker in den Becher und erstarrt mit erhobener Hand – seit Jahren nimmt sie keinen Zucker mehr. Sie lächelt vor sich hin und bleibt mit dem Kaffee vor dem Telefon stehen. Der Apparat sieht vorsintflutlich aus: rot, aus Plastik, mit einer runden Wählscheibe. Sie überlegt sich, was sie sagen soll. Dasselbe wie hier. Dass da eine Kurve war, aus der sie hinausgetragen wurde, dass es irgendwo hinter dem Schild nach Bożków und Bardo war, daran erinnert sie sich genau. Das Auto ist direkt hinter der Kurve den Abhang hinuntergefallen. Vielleicht hat man es schon gefunden. Sie legt die Hand auf den Telefonhörer und zieht sie wieder zurück.
Olga stampft die Grütze, gibt ein Ei hinein und ein Pulver, gießt Öl dazu.
»Für wen ist das Essen?«, fragt Ida.
»Wir haben noch andere Tiere hier. Adrian bringt sie her.«
Und dann:
»Rufen Sie Ihre Tochter nicht an?«
Ida verbrennt sich die Lippen am Kaffee.
»Sie ist unterwegs, ich weiß eigentlich gar nicht, wo sie ist.«
»Mit dem Kind?«
»Ja, mit dem Kind. Sie ist beruflich unterwegs. Sie schreibt Reiseführer.«
Ida denkt an die Karte von ihrer Tochter, sie liegt auf dem Schrank in ihrer kleinen Küche in Warschau, mit der Schrift nach oben. Die Arbeitsplatte betrachtet das märchenhaft bunte Riff. Maja schrieb in ihrer ungleichmäßigen Kinderschrift: Ganz liebe Grüße von ihnen beiden, sie seien gesund und munter, im März beginne der Monsun, deshalb würden sie bald an die Rückkehr denken. Jeder Satz beginnt mit einem Gedankenstrich. Unter der Unterschrift ist etwas, das aussieht wie ein Klecks. Wenn man es lange genug anschaut, erkennt man ein hastig oder unbeholfen hingezeichnetes Herz. Sie hat ein Herz gemalt. Und da ist noch etwas: eine gelungen gezeichnete Schildkröte. Die ist sicher von dem Jungen. Schade, dass sie die Karte nicht mitgenommen hat, sie könnte sie Olga zeigen.
Olga stellt keine Fragen mehr. Doch als Ida an die Karte auf dem Küchenschrank denkt, fällt ihr plötzlich ein, dass sie morgen zu einer Untersuchung ins Krankenhaus kommen soll. Sie sagt es Olga, die erwidert:
»Das Herz?«
»Woher wissen Sie das?«
Читать дальше