Ольга Токарчук - Letzte Geschichten

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Gerade ist nach langer Ehe Paraskewias Mann gestorben, in ihrem Haus hoch oben auf dem Berg, das im tiefsten Winter
von der Außenwelt abgeschnitten ist. Und so schreibt sie die Nachricht von seinem Tod in großen Buchstaben in den Schnee, damit die Menschen unten im Tal davon erfahren. Ihre Enkelin Maja erlebt das Sterben ganz anders. Im Urlaub auf einer heißen Südseeinsel begegnet sie einem schwerkranken Zauberkünstler, in dem sie ihren Vater zu erkennen glaubt. Der Tod kommt schnell, plötzlich. Majas Mutter Ida möchte noch ein Mal ihr Elternhaus sehen. Im Schneetreiben verunglückt sie mit dem Auto
und findet Unterschlupf bei einem älteren Ehepaar, das eine Sterbeklinik für Tiere unterhält, und begegnet auch ihrer Mutter Paraskewia – in einer mythischen Vision.

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Kitsch ist die leere, unreflektierende Nachäffung von etwas wirklich Erlebtem, einer einmaligen, originalen, unwiederholbaren Entdeckung. Kitsch ist Verdoppelung, Vervielfältigung, Mimikry, die von einer bereits geschaffenen Form zu profitieren sucht. Kitsch ist die Imitation von Rührung, ein Wühlen im grundlegenden, ursprünglichen Affekt, dem dann ein zu enger Inhalt übergestülpt wird. Jede Sache, die vorgibt, etwas anderes zu sein, um bestimmte Gefühle hervorzurufen, ist Kitsch.

Jede Imitation ist moralisch schlecht – deshalb ist Kitsch gefährlich. Nichts ist so gefährlich für den Menschen wie der Kitsch, nicht einmal der Tod.

Ida vermutet, dass dieses Thema einen tieferen, symbolischen Grund hat und Nikolin, hoffnungslos darin versunken, ein Mysterienspiel vollführt, er nähert sich diesem tiefen, dunklen Geheimnis, in dem Kitsch bloß ein Vorwand, ein Schlüssel ist.

Menschen kommen nur zusammen, um zu sehen, wie sie sich voneinander unterscheiden. Je mehr sie sich unterscheiden, desto länger bleiben sie zusammen. Als wollte das Leben ihnen alles zeigen, was sie nicht sind. Jeder Tag mit Nikolin beweist, dass diese Unterschiede unaufhebbar sind. Sie leben achtzehn Jahre miteinander.

Sie sieht zu, wie er seine kleinen Notizen auf Zetteln macht, höchstens zwei Worte, wie Chiffren. Emotionen sind deshalb so gefährlich, weil sie wie besessen nach einer Ausdrucksform suchen, sie sind ungeduldig, können es nicht abwarten, etwas Neues, Eigenes zu schaffen, und verfallen so aus Hast in abgenutzte Formen. Je stärker die Emotion, desto größer die Versuchung, sich einer abgenutzten Form zu bedienen – je mehr die Füße wehtun, umso eher finden sie einen alten ausgelatschten Pantoffel. Kitsch ist die Affektation von Emotionen , schreibt Nikolin in seiner kleinen, zerfahrenen Handschrift, die aussieht wie eine Chromosomenreihe.

Irgendwann stehen sie in der Küche einander gegenüber. Sehr lange. Sie messen sich mit Blicken – das ist die einzige Kampfesform, auf die sie sich einlassen können. Sie sieht die Miene, die sogleich unter den erstaunt hochgezogenen Brauen verschwindet. Doch der kurze Gesichtsausdruck, der nur einen Augenblick lang erscheint und ansonsten sorgfältig verborgen ist, bleibt ihr in Erinnerung. Ein leeres, fremdes Gesicht. Jedwede Liebe ist Kitsch, es gibt keine neuen Formen für die Liebe, denn alle sind schon tausendfach abgenutzt. Es gibt keine Form, also gibt es keine Liebe. Ida spürt einen Schmerz irgendwo in der Herzgegend, weil Nikolin erstorben ist.

»Manche beschäftigen sich mit Dingen, von denen sie sich fernhalten sollten«, denkt sie. Wenn sie anfingen, von einem anderen Thema zu reden, von einem Thema, das ihnen nicht einmal bewusst ist, sie aber wirklich berührt, dann könnten sie etwas Wichtigeres sagen. Doch sie erkennen ihr Thema nicht und widmen sich einem ganz anderen. Auf diese Art und Weise sterben sie bei lebendigem Leib.

Im Hörer das enttäuschende monoton gedehnte Freizeichen. Niemand hebt ab. Ist das möglich?

Die kranke Hündin seufzt plötzlich, dann setzt sie sich auf, schwankt leicht hin und her. Sie schaut gleichgültig vor sich hin. Atmet schwer.

»Willst du rausgehen? Was möchtest du?«

Das Tier reagiert nicht. Ida setzt ihm wieder die Wasserschüssel vor. Anfangs schnuppert es desinteressiert an dem Wasser, dann, plötzlich, als fiele ihm alles wieder ein, beginnt es gierig zu trinken, verspritzt das Wasser auf dem Lager und auf Idas Rock. Es hört genauso plötzlich auf, wie es begonnen hat, und legt sich schwerfällig hin, genauso wie zuvor. Es liegt auf der Seite und atmet schwer, flach, hat die Augen halb geschlossen, Ida ist sich nicht sicher, ob das Tier sehen kann oder ob seine Augen schon erblindet sind und höchstens noch die einen oder anderen inneren Hundebilder verfolgen. Sie meint, es tue nicht gut, die ganze Zeit so auf einer Seite zu liegen, deshalb verschiebt sie den Körper der Hündin vorsichtig. Sie hört ein Stöhnen, das fast menschlich klingt.

»Ich will dich doch nur umdrehen, tut das denn so weh?«, flüstert sie.

Behutsam stellt sie das Tier auf die Beine und dreht es dann langsam auf die andere Seite; der Körper überlässt sich ohne Widerstand, zeigt keine Reaktion, keinen Versuch, die Stellung zu ändern, sich bequemer hinzulegen. Sie streichelt den Kopf, die Ohren, ein Auge zittert, das Lid hebt sich, und Ida weiß, dass die Hündin sie erkannt hat.

Sie kehrt zum Tisch zurück und schlägt das Telefonbuch auf, das seit gestern hier liegt, als hätten sie es extra für sie zurechtgelegt. Sie wird noch einmal anrufen, erst bei der Polizei, dann bei der Straßenwacht. Bei der Arbeit. Sie wird auch bei Maja anrufen und eine Nachricht hinterlassen. Und sie wird Ingrid anrufen. Sie wird sagen: Wisst ihr, was mir passiert ist? Ich hab einen Unfall gehabt. Ich bin gegen einen Baum geprallt, hab das Auto kaputt gefahren. Rums. Hahaha. Mir ist nichts passiert, ich fühle mich nur ein bisschen vor den Kopf geschlagen. Ich habe bei zwei alten Leuten Unterkunft gefunden, hier bleibe ich, bis ich alles erledigt habe, bis spätestens morgen. Sie sind sehr nett, sie haben eine Hühnerfarm oder so. Abgesehen davon ist alles in Ordnung. Taratatata. Ida spürt plötzlich einen wohltuenden Energieschub, als wäre sie endlich aus dem quälenden Halbschlaf erwacht.

In diesem Augenblick fährt ein Auto vor, dieser Diesel, der hellblaue Lieferwagen des Enkels. Türenschlagen. Ida hört die Stimmen der drei. Sie schaut aus dem Fenster und sieht Adrian, er öffnet die Hintertür des Lieferwagens und zieht Kisten heraus, lange Kisten mit Löchern im Deckel, ähnlich wie die, in denen man Hühner transportiert. Vorsichtig tragen sie eine nach der anderen durch das dunkle Tor. Dann verschwinden die drei im Innern der Scheune.

Der Nebel hat sich aufgelöst, sanft, freigiebig und großherzig scheint die Sonne. An den Dachrinnen haben sich kleine Eiszapfen gebildet, die wie Messerklingen glänzen. Bald wird es warm, vielleicht fängt nun wirklich der Frühling an. Ida geht an das andere Fenster. Der Berg erhebt sich über dem grauen Baumbestand, der von der Last des Schnees niedergedrückt wird. Der Berg erhebt sich in vollkommener Symmetrie, er ist fast kahl, bis auf die weißen Sprenkel der Birken. Ein spiralförmig aufsteigender Weg zieht zwei dünne Linien durch den Birkenwald. Ja, jetzt sieht man, dass es eine Halde ist, auf der rechten Seite ragen noch die Metallteile der früheren Bahn auf, über die die Wagen fuhren und einen Berg aus dem aufschütteten, was aus der Erde geholt worden war und als unbrauchbar galt. Dieser Berg musste demnach seine unterirdische Entsprechung haben, sein Gegenstück, eine Bergmulde, einen leeren Raum. Ida stellt ihn sich in genau dieser Kegelform vor, umwunden von der aufsteigenden Wegspirale, nur dass dort, unter der Erde, der Gipfel nach unten zeigt und der Weg hinabführt, anstatt sich hinaufzuwinden. Dieser unterirdische Gegenberg ist aus Leere gebaut und strebt zum Inneren der Erde, er hängt von der Unterseite der Erdoberfläche wie ein Tropfen Nichts, wie ein Stalaktit aus Leere. Wer an den Hängen der Halde hinaufsteigt, geht gleichzeitig nach unten, er ist zwei Personen. Der Körper steigt am Hang des Positivs nach oben, dem Himmel zu, der Körperlose, der aus Leere besteht, strebt nach unten, der Erdmitte zu.

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