Die Hauswirte sind nicht da. Das Lager der Hündin Ina ist auch leer. Ida will aus dem Fenster schauen, doch vor der Fensterscheibe hängt schon das neblige Grau, dessen Invasion sie von oben beobachtet hat. Krankenhaus, es erinnert sie an das Krankenhaus ihrer Kindheit, wo alle Scheiben weiß angestrichen waren.
Die Eltern hatten sie ins Krankenhaus gebracht und dortgelassen. Sie weinte die ganze Nacht und den ganzen folgenden Tag, sie fühlte sich zutiefst hintergangen, dass ihre Eltern so etwas tun konnten. Am zweiten Tag war sie schwach vom Fieber und vom Weinen, sie stellte sich vor, sie wäre tot und sähe den Begräbniszug und ihren Sarg, und natürlich auch die beiden: ihre schöne, ruhelose Mutter, die sich jetzt vor Gram windet, oh, wie sie sich grämt, wie sehr sie sich grämt, und den Vater, das Gesicht in den tränennassen Händen, und die Kinder aus der ganzen Schule und die Lehrer und die Ärzte und Krankenschwestern. Der Gedanke an den eigenen Tod ist gut, bittersüß wie junge Stachelbeeren, wie die ersten Äpfel.
Aus diesen Fenstern sieht man nichts. Sie setzt sich an den Tisch mit der abgewetzten Wachstuchdecke und schaut sich in dem Raum um, während sie auf das Essen wartet. Hier gibt es nichts Überflüssiges, kein Luxusobjekt, höchstens der Kalender: Bilder von raffinierten Speisen in grellen Farben. Der März zeigt einen Fisch, angerichtet auf einer länglichen Schale, gelbe Zitronenscheiben und grüne Petersiliensträußchen beleben den gebackenen toten Fischkörper. Das Grün und Gelb auf dem Kalender sind die einzigen Farbflecken in dieser farblosen Küche, in dieser blinden Küche mit den milchigen Fenstern. Über der Herdplatte hängen Porzellanbecher an Haken, sie nimmt einen herunter und füllt ihn mit Leitungswasser. Sie trinkt gierig, ein, zwei Becher und noch einen halben. Nach einem kurzen Blick auf den Teekessel geht sie auf die Suche nach der Toilette, hinaus in den dunklen, kalten Flur. Sie öffnet erst die falsche Tür zu einem kleinen Vorratsraum voller Pappschachteln. Aber gestern war sie doch im Bad, irgendwo hier muss es sein. In diesem Augenblick öffnet sich die Eingangstür, zuerst stürmt der große weiße Hund herein, kurz darauf steht Olga in der Türöffnung, sie hat die kranke Hündin auf dem Arm. Der eisige Nebel dringt in den Flur, rasch drängt er sich an Olgas kleinem Körper vorbei und erfüllt den Flur mit einem flüchtigen, milchigen Dämmer. Ida öffnet ihr schnell die Tür zur Küche und murmelt dabei einen Morgengruß. Olga dankt und sagt:
»Letzte Tür links.«
Dann verschwindet sie mit dem Hund in der Küche.
Das Badezimmer ist kalt und karg. Auf dem Boden steht ein elektrischer Heißluftofen. Der Ventilator setzt sich unwillig, schwerfällig und knirschend in Gang.
In dem kleinen Spiegel über dem Wasserhahn mustert Ida ihr Gesicht. Keine Verletzungen, aber sie ist verändert, vielleicht liegt das an dem trüben Licht, das hier überall herrscht. Ihr Gesicht kommt ihr nicht fremd vor, aber anders, als sei es keiner längeren Betrachtung wert, verschwommen, ein Objekt, das man tagtäglich sieht, die gelangweilten Augen gleiten langsam und systematisch darüber hinweg und nehmen es nicht mehr wahr. Sie berührt die Oberfläche des Spiegels, ihr Gesicht versteckt sich hinter ihren Fingern, dann ist es wieder da, immer noch merkmalslos, unscharf. Ida tastet sich systematisch ab, Arme und Bauch, sie prüft die Härte des Brustkorbs und die Weichheit des Halses, ob nichts gebrochen ist, nichts auf Druck wehtut, nichts zu Besorgnis Anlass gibt. Beine, Füße, Knie, Schenkel, Gesäßbacken, Becken. Stille.
Sie sieht sich selbst. Haare bis auf die Schultern, glatt, das Grau verborgen unter einer Haarfarbe der Serie »Natürliche Tönung«, Wella oder Schwarzkopf, Nummer null fünf, wahrscheinlich hellbraun – an diese Farbe hat sich ihre Gesichtshaut über die Jahre hinweg gewöhnt. Der Hals – lauter Ringe, als wäre er mit etlichen dünnen Fäden umwickelt. Dieser Prozess ließ sich nicht aufhalten, weder Cremes noch Massagen haben geholfen. Die Oberarme wurden kleiner, zerbrechlich, das Gewebe, das sie bedeckte, verwelkte, jetzt fängt es an, den Gesetzen der Schwerkraft folgend, nach unten zu wandern, an geschütztere Stellen. Die Brüste – sie schenkt ihnen selten noch Aufmerksamkeit – sind tränenförmig geworden, Tropfen aus weichem, feinem Wildleder. Und jetzt fällt es ihr auf: Den ganzen Körper zieht es zur Erde, als wären alle seine Teile schon erschöpft und müde und gäben still das tägliche Gerangel mit der Erdanziehungskraft auf. Ja, sagt der Körper, ich ergebe mich, ich komme dir entgegen, ich kämpfe nicht mehr gegen dich, ich welke, beuge mich, krümme mich, falle auf die Knie und drücke mich schließlich mit Gesicht, Bauch, Schenkeln an die Erde, breite die Arme aus – saug mich in dich auf, lass mich in dich versickern, mich auflösen, lass mich zu Staubteilchen werden, zu Boden sinken und dort bleiben.
Ida berührt ihre Brust an der Stelle, wo das Herz unter den Rippen ist. Es ist ein krankes Herz, wie sie meint, und an diesem Herzen wird Ida sterben. Es ist gut, wenn man sein Leben lang weiß, woran man schließlich sterben wird. Von Zeit zu Zeit und ohne ersichtlichen Grund kommt es zu Vorübungen.
Es beginnt mit einem Beben im Brustkorb. Das Herz flattert darin wie eine Biene in einer Schachtel, die blindlings an die Wände schlägt, surrt und flirrt, bis sie vor Erschöpfung umsinkt. Das dauert zehn, zwölf Sekunden, nicht länger, anschließend setzt das Herz minutenweise aus. Ida liegt wach im Dunkeln, denn meistens passiert es in der Nacht. Ein Probetod – plötzliche, weiße Stille. Die Angst entsteht nur bei diesem Surren des Herzens und ist eine Folge der Bewegung, des Flatterns, des plötzlich abhandengekommenen Rhythmus. Emotionen sind immer Folge eines körperlichen Zustandes, nie umgekehrt, stellt Ida fest. Wenn das Herz stillsteht, verschwindet die Angst. Dann muss sie die Lampe anmachen, denn sie möchte gern wissen, ob es möglich ist, dass das Herz diesmal wirklich stehen geblieben ist, dass es keine Einbildung ist, dass es keine Hysterie oder Hypochondrie ist. Und ob das heißt, dass sie tot ist. In der kleinen Rinne längs der Adern findet die Fingerkuppe die wohlbekannte Stelle. Nichts pulsiert dort, nichts bewegt die glatte, körperwarme Haut. Das Herz steht tatsächlich still.
»Sie wissen doch, dass das Herz unmöglich stehen bleiben kann. Das muss Ihnen nur so vorgekommen sein«, sagt die sehr junge Krankenschwester, als sie die Angaben auf der Karte notiert. In ihrem Blick liegt jedoch ein unfreiwilliger Respekt, wie man ihn den Dingen zollt, die man nicht ganz begreift.
Jetzt sitzt Ida im Wartezimmer und umfasst ihr Handgelenk mit den Fingern der linken Hand. Hier besteht eine ideale Abstimmung: Das Handgelenk passt genau in den Ring, den Daumen und kleiner Finger bilden. Sie berührt den halbrund vorstehenden Knochen, eigentlich ein Knöchelchen, das sich wie eine Kugel unter der Haut wölbt. »Wie heißt dieser Knochen, und was hat er mit mir gemein?«, denkt sie. Sie ist verärgert, weil der Arzt sich verspätet. Auf welche Weise ist dieser Knochen, dessen Namen Ida nicht kennt und dessen Wesen sie nicht versteht, sie selbst? Wäre sie ohne diesen Knochen immer noch sie selbst? Ohne welches Organ wäre sie nicht mehr sie selbst? Das Herz? Das Gehirn? Sie muss den Arzt fragen.
Sie stellt sich das Innere ihres Körpers vor, als wäre er der Held eines Unterrichtsfilms, wie er den Kindern in der Biologiestunde gezeigt wird, Deine Haut oder So arbeitet das Gehirn des Menschen , alles ist in riesiger Vergrößerung dargestellt, zusammengesetzt aus gewaltigen Zellen, pulsierenden Einzelheiten von Teilen eines größeren Ganzen, das man sich nicht einmal vorstellen kann. Ihr Körper besteht aus geheimnisvollen Gräben und Auswölbungen, übereinanderliegenden Schichten, fleischigen Rohren, schimmernden Oberflächen, seerosenartigen Gebilden. Er ist genauso fremd wie der Meeresgrund, wie ein von ungeheuerartigen und furchterregenden Wesen bevölkertes Korallenriff.
Читать дальше