Ольга Токарчук - Letzte Geschichten

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Gerade ist nach langer Ehe Paraskewias Mann gestorben, in ihrem Haus hoch oben auf dem Berg, das im tiefsten Winter
von der Außenwelt abgeschnitten ist. Und so schreibt sie die Nachricht von seinem Tod in großen Buchstaben in den Schnee, damit die Menschen unten im Tal davon erfahren. Ihre Enkelin Maja erlebt das Sterben ganz anders. Im Urlaub auf einer heißen Südseeinsel begegnet sie einem schwerkranken Zauberkünstler, in dem sie ihren Vater zu erkennen glaubt. Der Tod kommt schnell, plötzlich. Majas Mutter Ida möchte noch ein Mal ihr Elternhaus sehen. Im Schneetreiben verunglückt sie mit dem Auto
und findet Unterschlupf bei einem älteren Ehepaar, das eine Sterbeklinik für Tiere unterhält, und begegnet auch ihrer Mutter Paraskewia – in einer mythischen Vision.

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Aber sie wurde nie ausgezählt, deshalb wusste sie nicht, wie es war, wenn man in der Mitte lag und sein Gewicht verlor. Sie stellte es sich vor wie einen Schlaf. Schlaf ist selten nur ein dunkles Nichts, meistens tut sich allerhand im Schlaf, aber anderes als im Wachen. Unglaubliche Dinge werden ganz natürlich, und die Zeit hüpft und schlägt Purzelbäume. Vielleicht hat man dann ein Wissen, das zu nichts nutze ist, das niemand braucht. Vielleicht verhält sich der von außen aus dem Kreis betrachtete Körper, der sich auf den Fingerspitzen weniger Mädchen tragen lässt, vollkommen normal und steht in keinem Widerspruch zu irgendetwas. Es ist wie mit diesem Leichenatem, unmöglich und trotzdem irgendwie sinnvoll. Sie fühlt jetzt wieder das Gewicht auf den Fingern, dieses Gewicht, das seiner selbst zu spotten scheint, Schwere und Leichtigkeit zugleich.

Am Morgen erwacht sie schlagartig, plötzlich – sie öffnet die Augen und sieht das graue Licht, in dem die Nähte und Falten der Decke zu einer einförmigen, matt glänzenden Oberfläche verschwimmen.

Sie hört eine Tür zuschlagen, das Dröhnen eines mühsam anspringenden Dieselmotors. Der Anlasser röchelt lange, dann verstummt er. Das wiederholt sich mehrere Male, schließlich – zu ihrer Erleichterung – springt der Motor an, und das Brummen entfernt sich langsam.

Nach dem Aufwachen horcht sie immer auf ihren Herzschlag, ob alles in Ordnung ist, ob es schlägt und wie es schlägt. Sie tastet ihren Körper ab, ob er nicht durch irgendeinen Zufall über Nacht auseinandergebrochen ist, aber jetzt, so unbeweglich auf dem Rücken liegend, fühlt sie sich so wohl, dass sie nicht einmal die Hand hebt, um sie auf die Brust zu legen. Der Anblick der gleichförmigen Oberfläche der Zimmerdecke beruhigt sie, ihre Hände schlafen noch auf dem rauen, gestärkten Laken. Sie erinnert sich wieder.

Sie heißt Ida Marzec. Vierundfünfzig Jahre alt. Gemeldet in Warschau, Adam-Plug-Straße 89, Wohnung 21. Sozialversicherungsnummer 50012926704. Gott sei Dank.

Die Tür quietscht leise, und sie hört kurze klackende Schritte, wie das Ticken einer Uhr. Sie hält die Augen geschlossen und spürt einen warmen Atemhauch im Gesicht. Es ist der weiße Hund, das weiß sie. Sicher betrachtet er sie, und sein Atem streift dabei ihre Wange. Sie reagiert nicht, und der Hund geht leise davon. Sie bleibt noch eine Weile liegen, langsam fällt ihr wieder ein, wo sie sich befindet. Sie stellt fest, dass sie in Strumpfhose und Bluse geschlafen hat, ihr Rock liegt auf dem Boden. Der Anblick dieses Rocks aus dicker grauer Wolle, ein teurer, schräg geschnittener Rock, der modisch ist und schlank wirken lässt, weckt eine vage unangenehme Erinnerung, ein Gedanke will sich ihr in den Kopf drängen, sie wehrt sich dagegen, schiebt ihn fort und unterdrückt ihn.

Vor dem Haus sitzen ihre Eltern. Der Vater wickelt Garnknäuel auf und schaut sie nicht an. Die Mutter ist jung, sie erinnert an Maja, sie ist wie die erwachsene, fremde, stets abwesende Maja. »Du kommst nie zu uns, wir haben dich schon fast vergessen«, sagt die Mutter vorwurfsvoll. Dann steht sie beleidigt auf und geht ins Haus. Sie geht hinter ihr her, schaut auf ihren Rücken, aber sie hat das Gefühl, dass die Mutter ihr ausweichen will. Sie geht hin und her durch die Zimmer, die unvermittelt zu einer endlosen Flucht werden. Sie bekommt Angst, weil ihr plötzlich einfällt, dass sie Maja, ihre kleine Tochter, draußen vor dem Haus gelassen hat. Sie will zurückgehen, aus diesem Labyrinth herausfinden, aber sie weiß nicht, wie. Alles wird hellblau.

2

Sie hört die Tür quietschen, Flüstern, dann eine leise, an den Hund gerichtete Rüge: »Hier darfst du nicht rein, geh nach unten!« Jemand nähert sich behutsam ihrem Bett und setzt sich auf die Kante. Ihr bleibt nichts anderes übrig, sie muss die Augen öffnen.

An der Tür steht ein Mann. Auf seinem Gesicht liegt ein Ausdruck trauriger Besorgtheit. Olga – sie ist es, die sich auf die Bettkante gesetzt hat – lächelt, ihr Gesicht ist klein, braun gebrannt, runzlig, es hat etwas beunruhigend Asymmetrisches an sich.

»Den ganzen Tag hast du geschlafen, Kind, jetzt wird es dunkel, und Adrian muss fort, aber er möchte dich gern untersuchen. Vielleicht hast du etwas gebrochen. Dann müssten wir nämlich einen Arzt rufen, Adrian ist Tierarzt. Aber das ist ja egal … Darf er hereinkommen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, ruft sie: »Komm rein, Ad.«

Ein junger Mann tritt ein, blond, mittelgroß, ein wenig verschwitzt, als hätte er sich beeilt oder wäre die Treppe hinaufgelaufen. Ungefähr in Majas Alter, um die dreißig. Er trägt einen dicken Pullover aus blau-weiß melierter Wolle. Seine hellen Haare sind schon merklich gelichtet, sie kleben ihm an der Stirn. Er lächelt verlegen, niemandem ähnlich, fremd. Jung. Er sieht sie ruhig an, lächelnd, forschend. Dann betrachtet er fachmännisch ihre Augen und Unterlider, bewegt ihre Hände, betastet ihren Bauch. Er bittet sie, sich aufzusetzen und die Beine zu bewegen. Mit den Augen seinem Finger zu folgen. Ida fühlt sich von der Untersuchung eingeschüchtert, wie immer, alle Ärzte sind junge Männer, die fremdestmöglichen Wesen.

»Ihnen scheint nichts zu fehlen«, sagt der Tierarzt schließlich, er hat eine hohe Stimme. »Sie haben einen Schrecken bekommen, nicht wahr? Stehen Sie nicht auf, bleiben Sie liegen.«

»Ich weiß nicht so recht, wie ich mich fühle. Nicht wohl.«

»Sicher, das ist nicht verwunderlich, das kommt von der Anspannung, es geht von selbst wieder vorüber.«

»Ich würde gern die Polizei anrufen, das Auto ist geliehen.«

»Ja, das muss man erledigen. Vielleicht morgen?«

»Heute nicht? Das Auto muss herausgezogen werden.«

»Heute ist es schon zu spät. Außerdem schneit es die ganze Zeit. Es ist doch nicht so dringend, oder? Morgen bin ich auch hier. Und übermorgen auch.«

»Aber ich bin hier nur auf der Durchreise.«

»Selbstverständlich.«

Der Mann sieht sie lächelnd an, wie ein Kind, mit dem man Doktor spielt. Als glaubte er ihr nicht. Er verneigt sich scherzhaft zum Abschied und geht eilig hinaus. Energisch läuft er die Treppe hinunter, noch draußen hört man seine Schritte, dazu das Knirschen von Schnee, dann das Röcheln des Dieselmotors. Beim dritten Anlauf springt das Auto an. Olga gibt ihr einen alten karierten Morgenmantel, und sie gehen in die Küche hinunter.

»Er ist Tierarzt«, sagt Olga, während sie ihr einen Becher heiße Milch vorsetzt und mit offensichtlichem Genuss Honig hineingibt. »In der Stadt hat er eine Praxis. Hast du Kinder, Familie?«

Der Honig rinnt in einem dünnen Faden hinunter und verschwindet in dem weißen Strudel.

»Eine Tochter«, antwortet sie und betrachtet die Mischung. Früher hätte sie so etwas niemals getrunken, aber jetzt hat sie Lust zu probieren, wie es schmeckt. »Ich habe eine Tochter, und sie hat schon einen Sohn.«

»Ach, dann bist du auch schon Großmutter«, freut sich Olga.

Stefan kommt herein, er reibt sich die Hände, offensichtlich war er draußen. Er holt Topfen und gelben Käse aus dem Kühlschrank, legt sie auf ein Brettchen, dazu Tomaten. Mit einem großen Messer schneidet er Brot.

»Ich müsste sehr hungrig sein, ich habe seit gestern nichts gegessen«, sagt Ida, sie sieht, dass die Frau ein künstliches Gebiss hat, das zu locker sitzt, ein unangenehmer Anblick, wenn sie spricht.

Beide schneiden ihr Käsebrot in quadratische Stücke, die sie langsam, andächtig in den Mund schieben. Kauend sehen sie sie an. »Ein menschlicher Tierblick«, denkt Ida und wendet verstohlen die Augen ab. Sie schaut auf das Essen, aber verspürt keinen Hunger. Sie geht zum Wasserhahn und trinkt Wasser direkt aus den zu einer Schale zusammengelegten Händen.

Sie erwartet, dass die beiden sie nach dem Unfall fragen werden, aber sie schweigen, essen den weichen Käse mit Tomate und Brot, werfen ihr nur zufriedene Blicke zu. Sie bricht ein Stück Käse ab und schiebt es in den Mund. Sie schmeckt nichts.

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