Bei meiner Mutter verhielt es sich ähnlich. Sie hatte die mir bekannten Details mit Fabricius besprochen. Auffällig war bei ihrer Aussage jedoch, dass sie damals keineswegs davon ausgegangen war, Andreas habe Geheimnisse vor ihr gehabt und sei ins Ausland gegangen, vielmehr glaubte sie zunächst an einen Unfall mit möglicherweise tödlichem Ausgang, nach dem Andreas nicht gefunden worden war.
Ich widmete mich dem zweiten und dritten Notizbuch mit den Befragungen der Nachbarn und unzähligen lockeren Bekanntschaften von Andreas. Das Ergebnis war ernüchternd. Niemand hatte Andreas am Montag beim Verlassen des Hauses gesehen. Die übrigen Gesprächspartner erweckten größtenteils den Eindruck, einfach nur ihren Namen in der Zeitung lesen und sich im Schatten seines Ruhms sonnen zu wollen.
Ich fragte mich, wie Fabricius es angestellt hatte, bei dieser mageren Informationslage so viele Artikel unters Volk zu bringen, wie ich in der Kiste fand. Wenig später kannte ich den Grund: Da er kaum brauchbare Details zu Andreas’ Verschwinden vorweisen konnte, hatte er sich einfach darauf verlegt, die Gerüchte, die über die Kalskis in Umlauf waren, aufzugreifen. Nachdem er die Ausreißer-Theorie als Tatsache dargestellt hatte, ging es vorrangig um die Gründe für sein Abtauchen, von denen die Suche nach seinem unbekannten Vater oder die mögliche Flucht vor rachsüchtigen Geliebten ganz oben auf der Liste standen. Auch angebliche Augenzeugen, die den Vermissten in Spanien oder Frankreich gesehen haben wollten, wurden ins Spiel gebracht und Zugfahrpläne als Beweise herangezogen. Von seinem Einstieg in die Hamburger Rotlichtszene war die Rede, da die Kontakte durch seine Mutter bestanden. Kein Wunder, dass Violetta Kalski so verbittert war, wenn es um dieses Thema ging. Fabricius hatte tatsächlich nicht beabsichtigt, ihr auf irgendeine Art und Weise zu helfen.
Bei den allgemeinen Notizen im vierten Band las ich, dass sich nach dem Erscheinen von Fabricius’ erstem Artikel mehrere Augenzeugen beim Ostfriesland-Reporter und der Polizei gemeldet hätten. Sie gaben an, Andreas Kalski am Tag seines Verschwindens auf der Strecke zwischen Aurich und Emden als Anhalter am Straßenrand gesehen zu haben. Die Beschreibung passte, beinahe jedem von ihnen war sein auffälliges gelbes T-Shirt mit dem Stern ins Auge gesprungen. Komisch nur, dass von insgesamt vier verschiedenen Stellen die Rede war, denn die Strecke war nicht besonders lang. Auch wurde er weder im Bahnhofsgebäude in Emden gesehen noch in einem der Züge.
In diesem Buch fand ich auch die Namen der beiden Privatdetektive, die Violetta Kalski beauftragt hatte. Der erste hieß Otto Saathoff, doch wie mir eine nachträglich eingefügte Notiz am Rand des Notizbuches mitteilte, war er vor elf Jahren verstorben. Keine Chance also, von ihm noch etwas in Erfahrung zu bringen. Sein Nachfolger hieß Georg Hoffmeyer. Fabricius hatte das damalige Alter und die Adresse des Privatdetektivs notiert, demnach war er inzwischen Anfang siebzig und lebte in Georgsheil, also ganz in der Nähe. Die Adresse war noch aktuell, und ich beschloss, ihm gleich morgen Vormittag einen Besuch abzustatten. Aber erst, nachdem ich mit Madame Cassandra gesprochen hatte. Ich wollte wirklich zu gern wissen, warum sie meine Mutter bezichtigte, für Andreas Kalskis Tod verantwortlich zu sein.
Mein Telefon klingelte, es war Phil. »Noch viermal schlafen«, sagte er. »Dann kann ich dir endlich bei deiner Recherche behilflich sein.«
»Ich berichte nicht über das Sex-Thema.«
»Dann wüsste ich aber etwas, bei dem du mir behilflich sein könntest.«
Sein Tonfall grenzte schon fast an sexuelle Belästigung. Na gut, so richtig belästigt fühlte ich mich nun auch wieder nicht. Ganz im Gegenteil.
»Wenn du deine Libido wieder im Griff hast, könntest du mir wirklich helfen.«
»Schieß los.«
»Ich beschäftige mich jetzt doch mit dem Vermisstenfall Andreas Kalski.« Ich berichtete ihm von der Verbindung zwischen Andreas und meiner Mutter. »Hast du von deinen Auricher Kollegen etwas erfahren können?«
»Stefan hat nachgesehen, aber es gab niemals eine heiße Spur in dem Fall. Die ermittelnden Beamten sind davon ausgegangen, dass er sich ins Ausland abgesetzt hat, und auch in den Jahren danach gab es nie einen Hinweis, der auf ein Verbrechen oder einen Unfall hingedeutet hätte. Aber da ist noch etwas.«
»Und das wäre?«
Sein Tonfall wurde ernst. »Ich habe mich gefragt, warum du bei unserem letzten Telefonat auf einmal doch nach Infos über diesen Fall gefragt hast.«
»Ich habe dir doch gesagt, dass er mit meiner Mutter verlobt war.«
»Das weißt du aber erst seit heute.« Er machte eine Pause. »Die Ähnlichkeit ist ja schon verblüffend.«
Ich wusste natürlich, worauf er hinauswollte. Letzten Herbst, als ich Phil kennenlernte, hatte es auch zwischen Sebastian und mir heftig geknistert. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, für wen ich mich entschieden hätte, wäre Sebastian noch unbescholten und nicht untergetaucht, auf der Flucht vor der Polizei. Phil wusste das, und ich glaube, das war einer der Gründe, warum er ihn gern hinter Gittern sehen wollte.
»Sind die beiden miteinander verwandt?«, fragte Phil.
»Ich weiß es nicht. Sebastians Eltern leben nicht mehr, und ob es sonst noch Familienangehörige gibt, weiß ich nicht.« Es fiel mir schwer, Sebastians Namen Phil gegenüber auszusprechen.
»Du suchst aber wirklich nur nach diesem Andreas? Oder führt deine Suche dich noch weiter?«
»Willst du mich verhören? Es geht nur um Andreas.«
»Elli, du würdest es doch nicht für dich behalten, wenn du eines Tages herausfinden würdest, wo Sebastian steckt?«
»Bestimmt nicht.«
»Sicher?«
»Ganz sicher.«
Zu mindestens sechsundneunzig Prozent.
Madame Cassandra lebte in einer hellblauen Villa mit weiß umrahmten Fenstern in der Nähe der Stiftsmühle in Aurich. Ich war unangemeldet aufgetaucht, aber wenn sie wirklich hellseherische Fähigkeiten hatte, würde sie mich ohnehin erwarten.
Die Wahrsagerin entpuppte sich als stämmige Frau im hohen Rentenalter mit struppigen, schwarz gefärbten Haaren und blassem Teint. Ihre Augen waren dick mit Kajal umrandet, und sie schielte. Sie trug ein selbst gemachtes Batikshirt, ich erinnerte mich, so etwas auch mal gemacht zu haben, aber das war in einem Schulprojekt in der siebten Klasse gewesen.
»Guten Tag. Ich heiße Elli Vogel. Ich bin hier, weil ich mit Ihnen über die Vergangenheit sprechen möchte.«
»Tritt ein.« Madame Cassandra sprach langsam und mit rauchiger Stimme, so als wollte sie besonders geheimnisvoll wirken, wohl um ihr Batikshirt zu kompensieren.
Ich trat ein und sah mich um. Ihr Haus wirkte ganz und gar nicht übersinnlich. Motivtapeten zierten die Wände, auf dem Parkettfußboden lagen flauschige Läufer. Ich folgte Madame Cassandra, die mit eigenartig federnden Schritten vor mir herging, den Flur entlang, ihr buschiges Haar wippte bei jedem Schritt, als habe es Mühe, sich mit der Schwerkraft abzufinden.
Sie öffnete eine Tür und ließ mir den Vortritt. »Willkommen im Raum der Erkenntnis.«
»Oh, wow!« Ich wusste vor lauter Kuriositäten nicht, wohin ich zuerst blicken sollte. Aus einem Regal an der rechten Zimmerseite starrte mir ein Schrumpfkopf entgegen. Ich hoffte inständig, dass es sich um ein albernes Souvenir und nicht um einen echten handelte. Außerdem beinhaltete das Regal Unmengen an getrockneten Kräutern, daneben vegetierten undefinierbare Gebilde in verstaubten Einmachgläsern vor sich hin. Ein Fenster, das von dunkelblauen Vorhängen gesäumt wurde, erlaubte einen Blick nach draußen in die Wirklichkeit, umrahmt von unzähligen Traumfängern. Auf einem runden Tisch stand eine Kristallkugel, ein penetranter Patschuligeruch hing im Raum, der von einem abgebrannten Räucherstäbchen in einer Zimmerecke herrührte.
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