Lena legte gerade Hüpfer die Jacke über die Schultern, als dieser die Hand nach dem Bettler ausstreckte. „Ich heiße Hüpfer, also eigentlich Felix, aber alle nennen mich Hüpfer. Und wie heißen Sie?“
„Ich heiße Springer, also eigentlich Herr Wurstbrot, aber alle nennen mich Springer“, sprach der Alte und wünschte den Kindern ein frohes Fest.
Auch wenn die Kinder sich köstlich über den Namen, sowohl Springer als auch Herr Wurstbrot, amüsierten, bedrückte sie doch etwas, als sie heimkehrten. „Da seid ihr ja“, rief Mama aus der Küche. Es duftete herrlich nach Zimt und Lebkuchengewürz. Hüpfer sprang sofort auf die Theke und angelte sich ein Plätzchen vom Backblech. „He, die sind für heute Abend und die Weihnachtstage gedacht“, sagte Mama und hob lachend den linken Zeigefinger. „Und, wie war der Stadtbesuch im vorweihnachtlichen Einkaufsgerangel? Habt ihr trotzdem alles bekommen?“
„Nö!“
„Nein?“ Mama sah erst Hüpfer fragend an und drehte sich dann zu Lena. „Ihr wolltet doch unbedingt noch ein Geschenk für Knusper und Müsli besorgen.“
„Die Meerschweinchen haben doch alles“, sagte Lena und griff ebenfalls zum Backblech.
„Genau!“, rief Hüpfer, „aber der arme Springer hat nichts!“
„Springer?“
„Hüpfer meint Herrn Wurstbrot“, erklärte Lena.
Mama kratzte sich verwirrt am Kopf. „Ich glaube, ihr wollt mich auf den Arm nehmen.“
„Nein Mama! Springer, also Herr Wurstbrot, sitzt auf der Straße und bettelt.“ Hüpfer sprang hinab und zeigte, wie Herr Wurstbrot kniete und den Arm ausstreckte. Lena machte es nach. „Und dann werfen die Leute Geld in seine Büchse.“
„Aber nur ganz wenig“, warf Hüpfer aufgebracht ein, „da kann man sich nicht mal die coolen Sticker für kaufen!“
„Die braucht er doch auch gar nicht!“ Lena verdrehte die Augen.
„Nein, die benötigt er wirklich nicht“, sagte Mama nachdenklich. Dann hellte sich ihr Gesicht auf. Entschlossen stemmte sie die Hände in die Hüften und sprach: „Kinder, packt die Kekse ein und holt von den Nachbarn einige Thermoskannen. Wir werden jetzt Herrn Wurstbrot und den anderen armen Leuten eine Freude machen!“
Hüpfer wirbelte herum und setzte zum Sprung an … „Die eineinhalbfache Drehung“, rief Lena bewundernd und umarmte ihren Bruder.
Jetzt gab es kein Halten mehr. Innerhalb einer Stunde wurde alles organisiert. Die Nachbarn waren so begeistert von der Idee, dass sie sich spontan bereit erklärten, etwas zu spenden. Und so kamen vier bis an den Rand gefüllte Bollerwagen zusammen, die von einigen Helfern in die Innenstadt gezogen wurden.
„Springer! Springeeeer!“, brüllte Hüpfer, als er den Bettler erkannte, und raste freudestrahlend auf ihn zu. Dieses Mal bremste er aber gerade noch rechtzeitig ab.
„Na, das ist ja eine Überraschung“, sagte der Mann und wischte sich eine Freudenträne aus dem Auge. Die Helfer stellten die Bollerwagen ab und begannen, die Leckereien an die Armen zu verteilen. Immer mehr Menschen kamen zu ihnen und freuten sich über die Gaben. Mama schenkte fleißig Tee und Kaffee aus. Lena spielte auf ihrer Blockflöte Weihnachtslieder. Hüpfer wunderte sich, dass es so viele arme Menschen in seiner Stadt gab, und kuschelte sich irritiert an seine Mama. „Ich weiß, es ist traurig zu sehen, dass es dieses Elend gibt“, erklärte sie sanft, „ihr habt jedoch etwas gemacht, auf das ihr sehr stolz sein könnt!“
„Was denn?“
„Ihr habt die Augen nicht verschlossen“, lächelte Mama weise.
„Dann würde ich ja auch nix mehr sehen!“
„Genauso ist das, mein Kind. Und nun lauf“, sagte sie, als sie den winkenden Herrn Wurstbrot entdeckte. Überglücklich beobachtete sie ihren Jungen, wie er dem Mann seine eineinhalbfache Drehung präsentierte.
„Jetzt bist du auch ein Meister der Sprünge“, jubelte Herr Wurstbrot und sprang mit Hüpfer um die Wette. Es wurde ein ausgelassenes Fest, das noch bis in die Abendstunden andauerte. Und als Hüpfer und Lena später unter dem Tannenbaum saßen, um die Geschenke auszupacken, fragte Hüpfer: „Wie Herr Wurstbrot wohl gerade feiert?“
Mama und Papa sahen sich lange an, dann sprach Papa: „Ich habe noch eine Überraschung für euch!“
Im Türrahmen stand Springer, also Herr Wurstbrot, und hielt zwei Weidenkörbe in den Händen. In beiden lagen leckere Mohrrüben und Äpfel. „Ich dachte, Knusper und Müsli brauchen auch noch ein Weihnachtsgeschenk“, sagte er und zwinkerte Mama zu.
Hüpfer machte einen Freudensprung und Lena fiel dem alten Mann in die Arme. „Das ist das tollste Fest aller Zeiten!“, rief er. Und während Knusper und Müsli ihr Futter verschlangen, feierte die Familie mit dem Meister der Sprünge das Fest der Liebe …
Britta Ahrens wurde als Novemberkind des Jahres 1978 geboren. Mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern lebt sie in Lunestedt, einem kleinen Dorf nahe der Weser. Sie schreibt seit ihrer Kindheit und konnte bereits einige ihrer Geschichten veröffentlichen.
*
Der Apfelbaum, der ein Weihnachtsbaum sein wollte
Es war einmal ein kleiner Apfelbaum, der wuchs langsam und mühsam im Schatten einer großen Tanne heran. Langsam und mühsam war das Wachsen, weil die große Tanne ihm nicht viel Wasser und Sonne übrig ließ, da sie alles für sich selbst brauchte. Doch der kleine Apfelbaum war zäh und wuchs stetig jedes Jahr ein bisschen. Eines Tages war er dann alt genug, um sprechen zu können. Doch weil er so schwach war, verstand er nur die Sprache der Bäume, die Sprachen der Tiere des Waldes blieben ihm unverständlich. Vor allem die zweibeinigen Tiere, die sich Menschen nannten, redeten viel zu schnell, als dass der kleine Apfelbaum auch nur ein Wort vom anderen hätte unterscheiden können.
Der kleine Apfelbaum aber war froh, endlich zumindest die Sprache der Bäume zu sprechen, und sobald er die Kraft dazu fand, sprach er die große Tanne an: „Du, Tanne“, fragte er, „hörst du mich?“ Die Tanne nickte knapp mit ihren Zweigen. Der kleine Apfelbaum freute sich so sehr, dass er vergaß weiterzusprechen.
„Nun mach schon“, drängte die große Tanne, „ich habe keine Lust, mit dir kleinem Pimpf zu sprechen.“
„Aber wieso denn nicht?“, fragte der kleine Apfelbaum verwirrt.
„Warum sollte ich mich mit einem wie dir abgeben“, erklärte die Tanne, „du wirst doch eh bald sterben.“
Der kleine Apfelbaum war entsetzt.
„Schau dich doch einmal an“, sprach die Tanne weiter, „wie mickrig du dort unten in meinem Schatten stehst. Du wirst niemals groß werden. Und weil Bäume nun aber einmal dafür gemacht sind, groß zu werden, sterben die, die es nicht können, irgendwann. So einfach ist das.“
„Aber das will ich nicht!“, rief der kleine Apfelbaum und schüttelte sich vor Angst.
„Da wirst du keine andere Wahl haben. Wenn du eine Tanne so wie ich wärst, dann sähe die Sache schon anders aus. Dann würdest du entweder so schön und groß wie ich sein oder von einer Menschenfamilie mitgenommen werden, die dich in ihre Stube holt, dir Lichter, bunte Kugeln und Zimtsterne ansteckt, so wie es jetzt der Brauch ist. Aber das gilt eben nur für Tannen. Ein Apfelbaum ist als Weihnachtsbaum nicht geeignet. Und nun schweige still und lass mich meine Wipfel im Wind schaukeln!“
Der kleine Apfelbaum hatte auch gar keine Lust mehr zu reden. Was sollte denn nur aus ihm werden? Er hatte sich so darauf gefreut, groß zu werden, und nun sollte er das nie erleben? Und alles nur, weil er keine Tanne war? Er dachte an Kugeln, Lichter und vor allem an Zimtsterne, die er sich besonders schön vorstellte. Und mit diesen Gedanken fiel er in einen unruhigen, aber tiefen Schlaf. So merkte er gar nicht, wie der erste Schnee des Winters langsam vom Himmel zu fallen begann.
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